Charité als Schrittmacher

Kolumne von Theiss Urban

Mehr als vier Jahre haben die Beschäftigten der Berliner Universitätsklinik Charité, voran das Pflegepersonal, um mehr Personal gekämpft.

Das qualitativ Neue: Es ging um die Forderung, einen Mindestpersonalschlüssel für die Stationen tarifvertraglich festzuschreiben mit dem dazugehörigen Kontrollmechanismus, eine Neuheit in der Geschichte der Bundesrepublik. Der „Schlachtruf“ lautete: „Mehr von uns ist besser für alle!“ Er drückt aus, dass unter dem eklatanten Personalmangel nicht nur die Beschäftigten leiden, sondern ebenso die Patienten und ihre Angehörigen. Die Auseinandersetzungen, stark unterstützt von der Gewerkschaft ver.di, fanden also im Interesse breiter Bevölkerungskreise statt und wurden daher von einem „Bündnis Berlinerinnen und Berliner für mehr Pflegepersonal im Krankenhaus“ unterstützt.

Das Ergebnis: Ab 1. Mai gibt es eine tarifvertragliche Regelung, die eine Höchstbelastung für die Beschäftigten festlegt. Am eindeutigsten ist die Pflegebesetzung für die Intensivstationen geregelt: Eine Pflegekraft pro Patient im Frühdienst, im Nachtdienst 1:3. Das ist ein Kompromiss, da eine qualitative Festlegung für die Normalstationen nicht durchgesetzt werden konnte. Jedoch sieht die Vereinbarung vor, dass Ansprüche an die Qualität der Pflege erfüllt werden müssen. Die Einhaltung des Tarifvertrages wird von einem Gesundheitsausschuss überwacht, der aus zwei Personen von ver.di und zweien des Arbeitgebers besteht. Hinzu kommt eine zentrale Ombudsperson. Im Streitfall kann die Gewerkschaft auch vor dem Arbeitsgericht klagen. Eine wichtige Rolle werden aber auch die ver.di-Tarifberater auf jeder Station spielen, die täglich die Arbeitsbedingungen kontrollieren und für deren Verbesserung eintreten sollen.

Dieser langwierige, qualitativ neuartige Arbeitskampf gegen den anhaltenden Widerstand (und immer wieder gebrochene Vereinbarungen) der Klinikleitung und damit letztlich auch des Berliner Senats war nur deshalb erfolgreich, weil die Beschäftigten einen langen Atem und gute Unterstützung durch ihre Gewerkschaft sowie durch die Bevölkerung hatten. Die Konsequenzen sind weitreichend: Die Öffentlichkeit nimmt die Personalnot in den Kliniken wahr; der Druck für eine allgemeine gesetzliche Regelung steigt; die Ausstrahlung auf andere Krankenhäuser wird erkennbar an zunehmenden Kämpfen der Belegschaften hier in Berlin, im Saarland und bundesweit, wo sich ebensolche Tarifkonflikte um mehr Personal entwickeln; die Forderung nach Verbesserung der Pflegeausbildung und Förderung des Nachwuchses wird lauter mit Hinweis auf die bessere Situation in anderen europäischen Ländern.

Es zeichnet sich ab, dass der wesentliche Grund für die personelle Misere im bundesdeutschen Krankenhauswesen in der kapitalistischen, profitorientierten Ökonomisierung des Gesundheitswesens liegt. Bereits in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte die DKP vor den Folgen dieser Profitorientierung gewarnt: Privatisierung, Personaleinsparung, Verschlechterung der Qualität, Zweiklassenmedizin. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen (sog. DRGs) im Jahr 2004. Seitdem erhalten Kliniken nur noch einen Geldbetrag pro Patient, der sich an der durchschnittlichen Dauer einer Krankheit orientiert (bzw. am durchschnittlichen Behandlungsaufwand). Infolgedessen werden die Kliniken in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf getrieben: Will (bzw. muss) ein Haus Gewinn machen, muss es möglichst viele Patienten mit möglichst kurzer Verweildauer aufnehmen und sie möglichst kostensparend behandeln. Zugleich müssen die Kosten gesenkt werden, was Personaleinsparung bedeutet. Außerdem werden nichtmedizinische Dienste in tarifungebundene „Tochter“-Gesellschaften ausgegliedert.

Wir meinen: Die kapitalistische marktwirtschaftliche Steuerung führt zur Patientenselektion auf Kosten der Schwerkranken, zu höherer Arbeitsdichte und Qualitätsminderung bei den Beschäftigten und zur Unterfinanzierung der Krankenhäuser.

Der Arbeitskampf an der Charité hat hier Zeichen gesetzt. Neben den Auseinandersetzungen um deutlich bessere Bezahlung muss die Forderung nach Abschaffung des Fallpauschalensystems in den Mittelpunkt rücken: Gesundheit darf keine Ware sein! Gesundheitspflege ist eine öffentliche Angelegenheit!

Und vergessen wir nicht: während mehr als 100 000 Pflegekräfte in den Krankenhäusern fehlen, soll die Bundeswehr personell und ausrüstungsmäßig in den nächsten Jahren mit 130 Mrd. Euro aufgerüstet werden – Geld ist also genug da, aber für wessen Interessen?

Theiss Urban ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

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"Charité als Schrittmacher", UZ vom 20. Mai 2016



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