Das europäische Gespenst

Ein Kommentar von Adi Reiher

Frau Merkel hat in den letzten Wochen einiges Richtige gesagt.

Ihr Satz „Dann ist das nicht mehr mein Land“ hat eine klare Linie gegenüber den Rechtspopulisten und Faschisten gezogen. Jetzt warnt sie vor Krieg in Europa, vorerst auf dem Balkan, wenn wegen der Flüchtlinge Grenzen gezogen werden. Damit malt sie tatsächlich nicht schwarz, wie sie sich selbst bescheinigt, sondern spiegelt die trübe Realität, dass es um die europäische Integration schlecht wie nie bestellt ist. Vor unseren Augen erodiert die bürgerliche Demokratie – nicht nur in einem Land.

Das Gespenst, das heute in Europa umgeht, ist das des Rückfalls in vergangene Jahrhunderte, in ein Europa der Kriege, rechter oder gar faschistischer Regierungen. Kaum hat die große Wirtschaftskrise am Firnis der Europäischen Integration gekratzt, verwandelt sich die Europäische Union zur kapitalistischen Kenntlichkeit. Die Schwüre auf die Menschenrechte im europäischen Vertrag, die Sonntagsreden von europäischer Solidarität, der Friedensnobelpreis von 2012 für Europa – Makulatur. Echt war das alles fast nie. Demokratie und universelle Menschenrechte enden dort, wo sie die Interessen der großen Konzerne gefährden, Friede nach außen wird nur so lange gehalten, wie diese Interessen von Tripolis bis Kapstadt und vom Hindukush bis Aleppo frei walten dürfen.

Immer mehr Menschen erkennen diese Widersprüche, aber allzuviele von ihnen wenden sich nach rechts. Auch ein Grund dafür: Zu oft sind Frau Merkel und Co. vor den Rechtspopulisten und dem Interesse des Kapitals eingeknickt, anstatt das Richtige zu sagen und vor allem zu tun.

Ob mit oder ohne Merkel, jetzt müssen Linke und Demokraten die Idee des Humanismus verteidigen, die von Europa ausging. Die Verlogenheit der Sonntagsreden muss überwunden werden, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit müssen Realität werden; sonst versinkt nicht nur Europa in der Barbarei.

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"Das europäische Gespenst", UZ vom 6. November 2015



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