Müder Realismus und Fiebertrauma: Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“

Der Tiefsinn im Keller

Und sie wurden nicht mehr gesehen: Mit einer Laufzeit von über 200 Minuten braucht es Sitzfleisch, um „Killers of the Flower Moon“ in einem Ritt zu schauen. Manche schlagen sich gen Ende zur Toi­lette ohne Wiederkehr durch. Fans von Martin Scorsese genießen derweil knappe dreieinhalb Stunden von dem, was sie als höchste Filmkunst empfinden. Wer aber das obligatorische „Taxi Driver“-Poster nicht in der Küche hängen hat, muss sich fortwährend dafür entscheiden, Zähes zu kauen.

Angelehnt an David Granns 2017 erschienenes Sachbuch gleichen Namens verhandelt „Killers of the Flo­wer Moon“ die Morde an Angehörigen des indigenen Osage-Stammes zwischen den Weltkriegen in Oklahoma, dem 1907 als 46. in die USA aufgenommenen Bundesstaat. Die Osage hatten dort, vertrieben aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten, Land erworben. Später wurde jedem Stammesmitglied staatlich Grund zugeteilt. Die Bildung des Reservats aber biss sich mit der Akkumulation im sich durchindustrialisierenden Nordamerika, saßen doch nun die Osage auf bis dato unentdeckten Ölquellen. Die Förderung des schwarzen Goldes bescherte den Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern einen einmaligen Reichtum, der ihnen den Neid der weißen Mehrheit – gleich welcher Klasse – bescherte.Und der den mit rassistischen Gesetzgebungen wenig geizenden US-Kongress dazu bewog, 1921, im Jahre des ebenfalls in Oklahoma an hunderten Schwarzen verübten Massakers von Tulsa, die Osage für geschäftsunfähig zu erklären. Sie mussten Weiße zu ihren Vormündern in Finanzangelegenheiten erklären, die sich dafür freilich gern hergaben, bevorzugt als Ehepartner und damit Erben.

In diese Gemengelage gerät Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio). Aus Europa und dem Krieg versehrt und mit chronischem Whiskeydurst heimgekehrt, nimmt ihn sein Onkel William Hale (Robert De Niro) auf. Der Großbauer mit dem Beinamen „King“ sieht sich selbst als gut geöltes Scharnier zwischen Osage und Weißen. Mit Altruismus hat seine Völkerverständigung allerdings wenig zu tun. Schließlich ist die administrative Einrichtung des Flächen-Land of the Free mit seiner fernen Hauptstadt und der rassistischen Gesetzeslage eine, die die größtmögliche Freizügigkeit weißer Großbauern wie ihm gestattet. Sein Neffe also soll die Gelegenheit beim Skalp packen und in Grundbesitz einheiraten. Auf die Frage hin, welche Farbe der Haut an einer Frau ihm beliebe, antwortet Burkhart, er möge sie alle, „rot, weiß und blau“. Ob dem Weltkriegsveteranen der eigene Scherz darum, was patriotische Pflicht sei, bewusst ist, mag DiCaprios Gesicht nicht offenbaren. Schon vor 30 Jahren übte DeCaprio bei der Darstellung des minderbegabten Landeis Arnie Grape in „What’s Eating Gilbert Grape“, wie man fortwährend Verwunderung und Überforderung, aber auch Treuherzigkeit und Schläunisfunken mit Millimeterarbeit an den Augenbrauen mimt.

Anders als in Scorsese-Filmen wie „Gangs of New York“ (2002) sind die optischen Krach- und Wow-Effekte selten. Wenn sie geschehen, dann sind sie grotesk: Sehr wahrscheinlich weiße Proleten, über und über schwarz angemalt vom Öl, das sie zapfen, beobachten regungslos einen lebensmüden Osage beim alkoholhaltigen Anbandeln mit seinem späteren Mörder; während eines Versicherungsbetrugs wird aus Landarbeitern, die nur so tun, als würden sie da Brandschneisen ziehen, ein fiebertraumhaftes wie -traumatisches Schattenspiel.

Mit solchen ästhetischen Maßnahmen versucht Scorsese, seinen müden Realismus mit schwülstigem Tiefsinn zu unterkellern. Das ist so unnötig wie mindestens die Hälfte der Filmdauer, die weniger namhaften Regisseurinnen und Regisseuren von den Erzählökonomen der Filmindustrie zu recht eingestrichen worden wären. Denn dass der Staat erst seine Ermittler aussendet, als sich die Leichen längst stapeln und die um ihr Leben bangenden Osage reichlich Geld nach Washington transferieren, genügt zur Vermittlung des Wahnsinns rassistischer Zustände genauso, wie es hinreichend ist, auf die Knebelung durch Besitzverhältnisse zu verweisen, wenn von den weißen Mördern die armen Halunken als Erste und am härtesten bestraft werden.

Killers of the Flower Moon
Regie: Martin Scorsese
Mit Robert De Niro, Leonardo DiCaprio und Lily Gladstone u. a.
Im Kino und streambar auf Apple TV

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Der Tiefsinn im Keller", UZ vom 27. Oktober 2023



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