Ein Debütroman aus Nigeria mit Stärken und Schwächen

Die Frau, die eine andere sein will

Korrupte Verhältnisse in der Politik, reaktionäre religiöse Strukturen und die Sexualität einer gläubigen Muslima – es sind konfliktträchtige, von den Herrschenden tabuisierte Themen, auf denen der Nigerianer Abubakar Adam Ibrahim die Handlung seines Debütromans aufbaut. Ein aufklärender, mutiger Roman, dem aber die Verknüpfung seiner einzelnen Elemente zu einem einheitlichen Ganzen nur phasenweise gelingt.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Binta, eine selbstbewusste Mitfünfzigerin, welche verwitwet mit ihrer Nichte und ihrer Enkelin am Rande von Nigerias Hauptstadt Abuja lebt. Sie ist eine sehr religiöse Frau, die aus tiefer Überzeugung betet. Sie ist eine Frau, die sich eine eigene politische Meinung bildet und nicht davor zurückschreckt, diese im Gespräch mit anderen zu verteidigen. Sie ist auch eine stolze Frau, die sich von unzähligen leidvollen Erfahrungen nicht brechen ließ und unbeirrt an das Gute im Menschen glaubt. Das alles ändert aber nichts daran, dass sie ein Mensch ist, der keine wichtige Entscheidung in seinem Leben selbst treffen durfte. Sie durfte sich ihren Ehemann nicht aussuchen, nicht ihren Sohn erziehen, nicht ihrer Sexualität Ausdruck verleihen. Das prägte sich in ihr Denken ein und so ist Binta auch eine in ihrem Innern von Zweifeln, Wehmut und einer unbestimmten Traurigkeit erfüllte Frau. Im Laufe der Handlung sieht sie sich schließlich vor die Entscheidung gestellt zwischen dieser Frau, die sie war und der, sie sein will. Doch welche Frau will sie sein?

Sie will eine Frau sein, die sich ihren (Sexual-)Partner selbst wählen darf, die selbst bestimmen darf, mit wem sie welche Art von Beziehung führt. Sie will aber auch eine Frau sein, die mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung auch Einfluss auf das Leben von Männern haben darf, was gegenwärtig gleichbedeutend damit ist, Einfluss in der Gesellschaft zu haben. Sie will nicht in ihrer Rolle als ältere Witwe, die mit ihrer Pilgerschaft nach Mekka ihre religiöse Verankerung bewiesen hat, anerkannt sein, sondern sich ihre Rolle selbst auswählen dürfen, was die Annahme von Elementen ihrer gegenwärtigen Rolle nicht ausschließt. Was heißt das konkret in Bezug auf die Romanhandlung?

Binta hat eine Affäre mit dem fast 30 Jahre jüngeren Reza. Aber durch diese erstmalige Auslebung ihrer sexuellen Bedürfnisse wird sie nicht zu einer anderen Frau. Sie hätte diese Affäre nie begonnen, wenn sie nicht bereits ein Selbstbewusstsein entwickelt hätte, das ihr die Einstufung eines Aktes, mit dem sie bewusst gesellschaftliche Normen bricht, als richtig ermöglichte. Ihre Entscheidung markiert zwar einen Bruch in dem Sinne, dass sie für ihr selbstbestimmtes Handeln eine neue Qualität gesellschaftlicher Repression zu riskieren bereit ist, aber eine Kontinuität in dem Sinne, dass selbstbestimmtes Handeln als solches für sie nichts Neues ist. Die Frau, die Binta sein will, ist eine selbstbewusste Frau, die für ihr selbstbestimmtes Handeln keine gesellschaftlichen Normen brechen muss. Das bedeutet aber, dass sie keine andere Frau sein will, sondern die gleiche Frau in einer anderen Gesellschaft. In dem gesellschaftlichen Käfig, in den sie eingesperrt ist, gibt es für sie überhaupt nicht die Option, frei herumzulaufen. Sie kann lediglich wählen, ob sie den Käfig akzeptiert oder auszubrechen versucht. Es ist diese zutiefst bittere Erkenntnis, zu der die Ereignisse Binta drängen, eine Erkenntnis, die sich weit hinten in ihrem Unterbewusstsein Stück für Stück formt und sich dann auf verschlungenen Wegen, mal in abstrakten Bildern und mal in Form neu angeordneter Erinnerungen, begleitet mal von Angst und mal von Hoffnung, mal von Trauer und mal von Wut, stetig, aber unaufhaltsam einen Weg zu ihrem Bewusstsein bahnt.

Dem Autor gelingt es sehr gut, die Mechanismen zu veranschaulichen, durch welche die Durchsetzung herrschender Wertevorstellungen in der Gesellschaft abgesichert wird. Binta erfährt in der Rolle, die diese Gesellschaft für sie vorgesehen hat, durchaus Anerkennung durch ihre Mitmenschen, sobald sie aber einen eigenen Schritt geht, wird ein steigender Druck auf sie ausgeübt, wieder zurück an ihren Platz zu gehen. Konkret wird ihre Rolle wesentlich bestimmt durch die religiös geprägten, patriarchalischen Strukturen, aus welchen sich die bestehenden Normvorstellungen speisen. Die „Vollstrecker“ dieser Vorstellungen finden sich in ihrer Koranschule, Nachbarschaft, Familie und letztlich auch – in ihrem eigenen Kopf.

Während Ibrahims Darstellung auf dieser Handlungsebene überzeugt, gelingt eine Rückkopplung der religiösen Unterdrückungsstrukturen an die allgemeinen gesellschaftlichen Machtverhältnisse kaum, obwohl die Geschichte das Potential dafür bereithielte. Denn in einem zweiten großen Handlungsstrang beschreibt Ibrahim das Leben des jungen Drogendealers Reza, das geprägt ist von Armut, Gewalt und Korruption. Politiker, Polizei, Unternehmer, alle sind sie korrupt. Geld ist die einzige Sprache, die in dieser Gesellschaft gesprochen wird, weil Geld Macht bedeutet. Die einen macht diese Sprache zu Kriminellen, die anderen zu kriminellen Staatsbediensteten, Geschäftsleuten und anderen. Es ist eine entlarvende, unverblümte Darstellung ungezähmter kapitalistischer Lebensverhältnisse. Aber die Rolle der Religion wird in dieser weitestgehend ausgespart. Wem nützt die Aufrechterhaltung der patriarchalischen Strukturen, wem die Konflikte zwischen Christen und Muslimen? Ibrahim schildert in einer Szene schön, wie ein Junge aufgrund seiner Armut zum Einbrecher wird. Aber wie hängen Armut und religiöser Fanatismus, Armut und Religion überhaupt zusammen? Was verbindet die Menschen, was trennt sie? In diesen Punkten lässt Ibrahim leider viele Möglichkeiten, die Handlungselemente zu einem in sich geschlossenen Zusammenhang zu verweben, aus. Die Antwort auf die für Bintas Leben so entscheidende Frage, wo jene Kraft zu suchen ist, die die bestehenden Verhältnisse umzuwälzen imstande ist, bleibt damit weitestgehend im Dunkeln.

„Wo wir stolpern und wo wir fallen“ ist ein wuchtiger erster Auftritt auf der Literaturbühne. Ibrahim macht deutlich, dass es kein Thema gibt, an das er sich nicht herantraut. Er will dorthin, wo es wehtut, wo sich die wirklichen Konflikte abspielen. Das, verbunden mit seiner über weite Strecken sehr poetischen, sehr eindringlichen Sprache, lässt Gutes für seine literarische Zukunft erhoffen.


Abubakar Adam Ibrahim
Wo wir stolpern und wo wir fallen
Residenz Verlag Wien 2019
geb., 360 Seiten, 24,- Euro
Wir danken der Literaturzeitschrift „nous“ für die freundliche Abdruckgenehmigung, die vollständige Rezension ist online über ihre Website zu finden.

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"Die Frau, die eine andere sein will", UZ vom 5. Februar 2021



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