Eine Schatzkiste, interpretiert von Dota Kehr & Band

Die Großstadtlyrik der Mascha Kaléko

Jörg Linnhoff

Die Berliner Sängerin Dota Kehr und ihre Musikerkolleginnen und -kollegen haben sich der Lyrik der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko angenommen und ein zauberhaftes Album aufgenommen. Ein Besucher hatte Dota nach einem Konzert einen Gedichtband der 1907 geborenen und 1975 gestorbenen Lyrikerin geschenkt. Deren Texte haben die Berliner Songwriterin und Sängerin nach eigener Aussage so sehr berührt, dass sie fast das gesamte Werk von ihr gelesen und die Gedichte, die sie besonders angesprochen haben, mit Musik versehen hat. Mit verschiedenen Duettpartnern und -partnerinnen wie Hannes Wader, Alin Coen oder Konstantin Wecker ist daraus ein poetisches Album geworden, das am 3. April 2020 erschienen ist.

Abermals ein Jubiläum
Lasst uns, ihr Freunde, ohne viel Geschrei
Dem nächsten Jubeltag entgegengehen!
Die Hälfte unsres Lebens ist vorbei.
Nun gilt es noch, den Rest zu überstehen.
Nichts gleicht dem vielgeschmähten Jugendrausch!
Und Lob des Alters – nichts wie saure Trauben.
Vernunft und Reife? Brüder, welch ein Tausch,
Wenn man bedenkt, was uns die Jahre rauben.

Bei der Suche nach Melodien zu den Gedichten Kalékos habe sie gemerkt, dass sich die Texte sehr schön singen lassen, weil sie einen guten Rhythmus haben und die Brechungen darin musikalisch wunderbar umsetzbar sind, erläutert die Sängerin. Die Sprache Kalékos sei ihr so leicht über die Lippen gegangen, als wären es ihre eigenen Texte. Die schlichte, sachliche Art, der es dabei jedoch nie an Tiefe fehle, habe ihr imponiert. Und Kalékos Texte über Berlin haben Kehr zusätzlich den Blick auf ihre Stadt erweitert.

Literarische Berühmtheit

Mascha Kaléko gilt als Schwester im Geiste eines Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern oder Erich Kästner. Entdeckt von Monty Jacobs, einem Wegbereiter des deutschen Feuilletons, schrieb sie im Berlin der 1920er- und 1930er-Jahre ihre sehr innige, teils ironische und mit viel Herzblut beseelte Großstadtlyrik, die sie schnell zu einer literarischen Berühmtheit machte. In dem Stück „Ganz kleiner Schwips“ kommt in Zeilen wie „Ich trink mit einem Frack auf Du und Du / und hab selbst dabei noch Salonmanieren; Denn neben mir geht mein Verstand spazieren / und sieht still zu …“ zusätzlich auch ihr feiner Humor zum Tragen. Im September 1938 musste Kaléko als deutsche Jüdin vor dem Nationalsozialismus nach New York emigrieren.

Im Laufe des Entstehungsprozesses des Albums kam Kehr die Idee, für bestimmte Stücke Duettpartner und -partnerinnen zu suchen. Die Vorstellung, mit geschätzten Kollegen etwas gemeinsam zu singen, hatte sie schon länger. So hat sie im Vorfeld die entsprechenden Kompositionen auf die jeweils Mitwirkenden zugeschnitten, so dass jeder ein zu ihm passendes Stück begleitet hat. Die Arrangements wurden dann gemeinsam mit der Band, bestehend aus Jan Rohrbach, E-Gitarre, Janis Görlich, Schlagzeug, Jonas Hauer, Keyboards, Matthew Bookert, Tuba, und Christian Magnuson an der Trompete erarbeitet. Dabei entstanden auch drei Instrumentalstücke, die zwischen den Gedichten kleine musikalische Räume schaffen.

In Waders Wohnzimmer

Hannes Wader für das Projekt zu gewinnen sei ihr eine besondere Ehre gewesen, so Kehr. Für die Aufnahme ist sie mit ihrem Techniker nach Kassel gefahren, wo im Wohnzimmer Waders dann das Duett zu „Auf eine Leierkastenmelodie“ entstand. Dies beginnt zu einer getragenen Melodie mit den wunderbaren Zeilen „Du kamst nur um einige Jahre zu spät, und ich konnte so lange nicht warten. Alle Blumen, die ich dich zu grüßen gesät, sind verwelkt nun in meinem Garten…“. Konstantin Wecker traf Kehr in Dresden, um mit ihm zwischen Soundcheck und Konzert „Kompliziertes Innenleben“ aufzunehmen. „Hinter jedem Abschied steht ein Warten. Wenn dein Schritt verhallt ist, sehn ich mich. Wenn du kommst, ist jeder Tag ein Garten. Aber wenn du fort bist, lieb ich dich …“, heißt es darin. Mit Alin Coen wiederum ist Kehr befreundet. Zu Zeilen wie „Gib mir deine kleine Hand. So, nun bist du nicht allein …“, haben sie gemeinsam das abschließende Lied des Albums „Einem Kinde im Dunkeln“ eingesungen. Weitere Duette gibt es mit Uta Köbernick, Felix Meyer, Max Prosa, Karl die Große und Francesco Wilking von „Die Höchste Eisenbahn“.

Mit „KALÉKO“ haben Dota & Band auf einfühlsame Weise eine kleine Schatzkiste aufgemacht, deren sehr liebevoll instrumentierte zeitlose Kleinode sich auch 45 Jahre nach Mascha Kalékos Tod zu entdecken lohnen. Das Album kann unter anderem über www.kleingeldprinzessin.de bestellt werden.


Mascha Kaléko

Die jüdische Lyrikerin Mascha Kaléko wurde 1907 im polnischen Galizien als Tochter eines russischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Kalékos Leben war geprägt von Heimatlosigkeit, immer wieder musste sie umziehen. Nach mehreren Zwischenstationen zog die Familie 1918 nach Berlin. Nach ihren Schul- und Studienjahren wurde sie im Berlin der Zwanziger- und Dreißigerjahre mit ihren Versen über Liebe, Abschied, Einsamkeit, Sehnsucht und Traurigkeit schnell zu einer literarischen Berühmtheit. 1930 wurde sie für die „Vossische Zeitung“ entdeckt, in der neben dem „Berliner Tagesblatt“ jahrelang ihre Gedichte erschienen. 1933 hatte sie mit dem „Lyrischen Stenogrammheft“ ihren ersten großen Erfolg.

Im September 1938 emigrierte Mascha Kaléko auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus mit ihrem zweiten Ehemann Chemjo Vinaver und dem gemeinsamen Sohn in die USA, von wo sie 1966 nach Israel übersiedelten. In der Nachkriegszeit geriet sie fast in Vergessenheit, erlebte dann aber vor allem bei jungen Menschen eine Renaissance. Ihre eigentümliche Mischung aus Charme, Melancholie, Humor, Aktualität und sozialer Kritik lässt Mascha Kalékos Lyrik unwiderstehlich und zeitlos erscheinen. Im Herbst 1974 besuchte sie ein letztes Mal Berlin, die Stadt, die ihre schriftstellerische Arbeit über lange Jahre prägte. Sie überlegte, vielleicht einen zweiten Wohnsitz neben Jerusalem dort zu nehmen. Aber auf der Rückreise nach Jerusalem starb sie am 21. Januar 1975 in Zürich an Krebs, 14 Monate nach ihrem Mann.

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"Die Großstadtlyrik der Mascha Kaléko", UZ vom 5. Juni 2020



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