Die Beschäftigten der Unikliniken in NRW streiken seit sieben Wochen. Ein Besuch im Streikzelt in Essen

„Die sehen uns als Vorbilder“

So ein Streik kann ganz schön müde machen. Vor allem, wenn er schon seit sieben Wochen läuft. Gegen 14 Uhr an diesem Mittwoch, den 15. Juni, ist die Stimmung im Streikzelt vor dem Universitätsklinikum Essen etwas bräsig. Das Zelt füllt sich langsam. Kolleginnen und Kollegen unterhalten sich in losen Grüppchen oder sind mit ihren Handys beschäftigt. Viele sitzen lieber vor dem Zelt im Schatten eines großen Baumes. Heute herrscht bestes Freibadwetter: 26 Grad im Schatten, keine Wolke am Himmel. Ein Streiktag ist aber kein Urlaubstag.

Vormittags war hier nicht viel los gewesen. Ein paar junge Streikende hatten sich getroffen, um gemeinsam zu Verhandlungen nach Köln zu fahren. Ab und an kam jemand vorbei, um sich in die Streiklisten einzutragen oder Mitgliedern des Streikkomitees Fragen zu stellen. „ver.di-Mitglied bin ich schon länger“, erzählte eine Kollegin dabei, „aber ich streike zum ersten Mal. Die Zustände sind ja unerträglich.“

Gegen die Müdigkeit hilft Kaffee. Eine Kollegin stellt eine große Kanne davon auf den Tisch mit den Getränken. Eigentlich hätte sie das schon heute morgen machen sollen, entschuldigt sie sich, es sei einfach zu viel zu tun. Und dann füllt sich das Streikzelt ganz schnell. Um halb drei eröffnet Monika vom Streikkomitee die Streikversammlung. Gut vierzig Kolleginnen und Kollegen sind dafür hergekommen. „Heute ist unser 42. Streiktag“, sagt Monika. Alle applaudieren. Sie erzählt von dem juristischen Angriff des Bonner Klinikvorstands auf ihren Streik, den die Richterin klar zurückgewiesen hat. Ein Sieg der Streikenden auf ganzer Linie, freut sich Monika. „Wir sind im Recht. Wir haben jedes Recht, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen!“ Die Hartnäckigkeit der Streikenden zahle sich am Ende aus. Der Zusammenhalt unter den Kollegen sei spürbar.

Von diesem Zusammenhalt erzählt auch Alex kurz. Er hatte einige Stunden zuvor mit einer kleinen Delegation Kollegen von der Sicherheitsabfertigung am Flughafen Düsseldorf besucht. Die seien ebenfalls völlig überlastet, der Krankenstand sei hoch. Nun begännen die Kollegen dort einen Arbeitskampf für Entlastung. „Die sehen uns als Vorbilder“, sagt Alex und wirkt dabei etwas erstaunt. Das macht Mut. Begeistert wird auch der Hinweis aufgenommen, dass der ver.di-Bundesvorstand beschlossen habe, das Streikgeld ab dem 21. Streiktag um 30 Prozent zu erhöhen.
Die Streikversammlung dauert keine Viertelstunde. Das Zelt leert sich wieder.

Die Kollegen, die bleiben, bereiten das Solidaritätsfest vor. Es wird pünktlich um 16 Uhr beginnen. Auch hier zeigt sich der Zusammenhalt unter den Streikenden. Sie arbeiten organisiert und effizient, aber nicht in dem Laufschritt, der im Klinikalltag mittlerweile üblich ist.

Um 16 Uhr ist die Wiese vor dem Zelt schon fast voll. Einige der Streikenden sind gegangen, dafür sieht man jetzt neue Gesichter. Monika eröffnet das Soli-Fest. Sie freut sich über die Unterstützung aus der Bevölkerung. „Fühlt euch zu Hause“, sagt sie und ermuntert zu Gesprächen und Redebeiträgen. Busfahrer Dirk greift zum Mikrofon. Sieben Wochen Streik seien doch wirklich ein Grund zum Feiern. Er äußert Verständnis für Patienten, die auf ihre Behandlung warten müssen. Der Streik sei aber völlig richtig, weiß er. Bei den derzeitigen Arbeitsbedingungen drohe sämtlichen Klinikbeschäftigten Burn-out. Die Beschäftigten an der Unikliniken streikten nicht für sich, sondern für ihre Patienten. „Wir werden dafür sorgen, dass Kranke die Versorgung bekommen, die sie brauchen!“ Dirk erzählt von überlasteten Busfahrern, denen bei Verspätungen mitunter nicht einmal Zeit für eine Pinkelpause bleibt. Seniorin Marta findet, was Pflegekräfte leisteten, sei unbezahlbar. Da müsse schon ein Ausgleich her. „Danke, dass ihr euch für uns einsetzt“, ruft sie den Streikenden zu.

Zwischen den Grußworten wird Musik gespielt. Maurice und Timo stehen am Grill und servieren Bratwurst im Brötchen – mit Fleisch, vegetarisch oder vegan. Ein ver.di-Kollege, der bei der Barthel-Gruppe in Essen arbeitet, erzählt von dem ersten Tarifvertrag, den er und seine Kollegen sich kürzlich erkämpft haben. „Wir lernen von den Streikenden hier.“ Ein kerniger Metaller aus Bochum berichtet vom jüngsten IG-Metall-Abschluss: 6,5 Prozent mehr für ihn und seine Kollegen. „Alleine schafft man gar nichts. Zusammen kann man alles schaffen!“ Eine Kollegin der Notruf-NRW-Streikbewegung sei am Vortag bei ihnen in Bochum gewesen und habe ihn und seine Kollegen zu Tränen gerührt.

Viele der Redner betonen den Vorbildcharakter des Streiks für Entlastung an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen. Diana arbeitet im Altenpflegeheim St. Augustinus in Essen. Ihre Kollegen seien gewerkschaftlich zu schwach organisiert, um für Entlastung zu kämpfen. In der Altenpflege sei das ohnehin schwierig, weil man die Patienten ja nicht vor die Tür setzen könne. Sie lädt die Streikenden des Uniklinikums zur Betriebsversammlung ein. Eisenbahner Thomas vergleicht die Personalsituation in den Krankenhäusern mit der bei der Deutschen Bahn. Zehntausende unbesetzte Stellen und tausende qualifizierte Kollegen, die angesichts des Dauerchaos gekündigt hätten, gebe es dort auch. Michel von der SDAJ Essen schlägt den Bogen von angeblich fehlenden finanziellen Mitteln zum 100-Milliarden-„Sondervermögen“ der Bundesregierung für todbringende Waffen. Die SDAJ wünsche den Streikenden viel Kraft. „Entlastung für alle, sonst gibt‘s Krawalle!“, schließt er.

Nicht nur Mitglieder anderer Gewerkschaften und politisch Aktive lernen von den Kollegen der Essener Uniklinik. Auch Kollegen innerhalb der Klinik entwickeln sich durch den Streik weiter. Als das Soli-Fest gegen 18 Uhr vorbei ist, erzählt mir Maurice, weshalb er ver.di einst skeptisch gegenüberstand. Er arbeitet seit drei Jahren im Einkauf. Seine Belastung sei nicht die gleiche wie die der Pflegekräfte. Dennoch sei die Arbeitsdichte im kaufmännischen Bereich mittlerweile unerträglich. Seit zehn Jahren warte seine Abteilung auf ein Barcodesystem zur Erfassung von Wareneingängen. Die Klinikleitung weigere sich, die notwendige Investition in Millionenhöhe zu tätigen. Dazu kämen globale Lieferengpässe. Für OPs werde immer noch viel just-in-time bestellt. Kommt eine Lieferung zu spät, sei das auch für ihn eine psychische Belastung. Maurice war Mitglied der Spartengewerkschaft VDLA, ver.di sei ihm „zu links“ gewesen. VDLA habe zwar für Entlastung verhandelt, den Streik aber nicht unterstützt. Jetzt ist er ver.di-Mitglied. Solidarische Menschenmassen gäben Halt, findet Maurice. Physisch, wenn man Schulter an Schulter zusammensteht wie auf Demos. Vor allem aber psychisch.

Recht hat er. Die Müdigkeit ist längst weggeblasen.

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"„Die sehen uns als Vorbilder“", UZ vom 24. Juni 2022



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