Revolution und Sozialpakt in Russland und China

Die Dialektik der Revolution

Domenico Losurdo

Unter welchen Bedingungen hat eine Revolution Erfolg? Wie Lenin geklärt hat, wird er durch die Verbindung zwischen der unaufhaltsamen Empörung der subalternen Klassen und der immer offensichtlicher werdenden Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die Führung beizubehalten, determiniert. Mit dem Auftreten einer großen Krise, die die Ordnung und sogar die Identität einer Nation in Frage stellt, gelangt die revolutionäre Partei an die Macht, indem sie sich auf der Grundlage von einer Art Pakt, den sie mit der ganzen Nation vereinbart, als neue Führungsgruppe anbietet. Dieser Pakt nimmt eine jeweils andere Konfiguration an. Im Oktober 1917 gründete er sich auf das Versprechen und auf das Projekt der Bolschewiki, den Bauern das Land zu geben und einem ausgebluteten und erschöpften Volk das Brot und den Frieden zuzusichern, einen Frieden, der im Inneren auf der Gleichheit zwischen den verschiedenen Nationalitäten basiert, die das Riesenland bildeten.

Auf der Grundlage welchen Paktes erringt die chinesische Kommunistische Partei den Sieg? Die Dimension des nationalen Paktes spielte eine große Rolle in einer Revolution, die im Kampf gegen einen als imperialistisch verurteilten Krieg ausbrach; eine offensichtlich noch größere aber in einer Revolution, die sich, wie die chinesische, in erster Linie als nationaler Befreiungskampf entwickelte. Am Vorabend der Machtübernahme, am 21. September 1949, verdeutlichte Mao: „Unsere Nation wird keine Nation mehr sein, die der Beleidigung und der Demütigung ausgesetzt ist. Wir sind aufgestanden (…) Die Ära, in der das chinesische Volk für unkultiviert gehalten wurde, ist vorbei.“ Der Pakt gründete sich also auf das Versprechen, der halbkolonialen und halbfeudalen Lage Chinas ein Ende zu setzen. Weiterhin unterstrich Mao in seiner Rede: „Mehr als ein Jahrhundert lang haben unsere Vorfahren aufgehört, harte Kämpfe gegen die in- und ausländischen Unterdrücker zu führen.“ Wenn wir auf die Epoche zurückblicken, die hier angegeben wird, dann stoßen wir auf den ersten Opiumkrieg. Die KPCh versprach also, die tragische Phase zum Abschluss zu bringen, die in der Geschichte der chinesischen Nation mit dem Opiumkrieg begonnen hatte. Es handelt sich um eine später mehrmals wiederholte Datierung, die von Mao dann explizit in der von ihm verfassten Inschrift für das Denkmal zu Ehren der Helden des Volkes hervorgehoben wird: „Ewiger Ruhm den Helden des Volkes, die seit 1840 in den zahlreichen Kämpfen gegen die in- und ausländischen Feinde, für die nationale Unabhängigkeit, für die Freiheit und das Wohl des Volkes ihr Leben geopfert haben.“ Mehr als ein Jahrhundert lang hatte die halbfeudale Rückständigkeit die Arroganz, die Einmischung, die Plünderung, die Herrschaft der kapitalistischen Großmächte möglich gemacht, und das hatte die Unterentwicklung Chinas noch verschärft.

Charakteristiken der chinesischen Revolution

Es ging jetzt darum, der Tragödie eines Jahrhunderts ein Ende zu setzen, eine sehr lange Periode, wenn man sie an den sozialen und ökonomischen Kosten, an den territorialen Verlusten, an den furchtbaren menschlichen Opfern misst, die sie mit sich gebracht hatte, jedoch eine sehr kurze Periode, wenn man sie an der jahrtausendealten Geschichte der chinesischen Nation misst. Die Revolution in China zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie in einem Land in halbkolonialen (und darüber hinaus halbfeudalen) Verhältnissen stattfindet, in offensichtlichem Gegensatz zur Oktoberrevolution, die sich in einem Land entwickelt hat, das an ihrem Vorabend zu den Protagonisten des imperialistischen Wettstreits um die Hegemonie gehörte. Dieser Unterschied ist bekannt. Es gibt aber einen anderen und vielleicht noch wichtigeren, der selten erwähnt wird. Im Gegensatz zur russischen entwickelt sich die chinesische Revolution von Anfang an unter dem Vorzeichen der „Longue durée“ (langen Dauer).

Die Konzeption der Longue durée wird noch von dem Bewusstsein bestärkt, dass in China die Revolution nicht unmittelbar sozialistisch sein wird, sondern noch „auf lange Zeit“ – wie Mao Ende 1947 anmerkt – einen wesentlich antifeudalen und antikolonialen Charakter aufweisen wird, mit dem Fortbestehen eines „kapitalistischen Wirtschaftssektors“. Hier wird ein Verlauf umrissen, in dem schon die erste Etappe einige Jahrzehnte dauern sollte.

Die KPCh erwartete sich von der Revolution die Wiedergeburt der chinesischen Nation und die Wiederaufnahme ihrer Entwicklung auf Gleichheitsbasis mit den anderen Nationen, nach dem kurzen und verhängnisvollen Intervall eines Jahrhunderts der Unterdrückung.

Gewiss ist die kommunistische Perspektive nach dem Sturz des Imperialismus und des Kapitalismus und nach der „Aufhebung der Klassen und des Staates“ noch weiter vorhanden. Aber wegbereitend für die Realisierung dieses Programms ist eine nationale und antikoloniale Revolution, die sich nach Mao die Lektion von Sun Zi zu eigen machen sollte, eines chinesischen Militärwissenschaftlers des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Erfüllung der Aufgaben der Gegenwart und Langzeitperspektive sind, ebenso wie die strikt nationale und die internationale Dimension, eng miteinander verknüpft.

In seiner Rede am Vorabend der Ausrufung der Volksrepublik China rekonstruierte Mao die Geschichte seines Landes. Insbesondere erinnerte er an den Widerstand gegen die Mächte, die die Opiumkriege vom Zaun gebrochen hatten, an den Krieg gegen Japan von 1894 bis 1895, „den Krieg gegen die Aggression der verbündeten Streitkräfte der acht Mächte“ (nach dem Boxer-Aufstand) und schließlich an „die Revolution von 1911“. So viele Kämpfe und ebenso viele Niederlagen. Wie soll man die Wende erklären, die an einem gewissen Punkt eintrat?

„Während dieser Widerstandsbewegung hatte das chinesische Volk lange Zeit, das heißt in den mehr als 70 Jahren vom Opiumkrieg 1840 bis zum Vorabend der Bewegung des 4. Mai 1919, dem Imperialismus keine ideologische Waffe entgegenzusetzen. Die ideologischen Waffen des erstarrten alten Feudalismus waren zerschlagen, konnten nicht standhalten und mussten den Bankrott erklären. So blieb den Chinesen nichts anderes übrig, als sich gezwungenermaßen solche ideologischen Waffen und politischen Rezepte anzueignen wie die Evolutionstheorie, die Theorie des Naturrechts und die bürgerliche Republik, die alle dem Arsenal der bürgerlichen Revolutionen des Westens, der Heimat des Imperialismus, entlehnt sind (…) Alle diese ideologischen Waffen erwiesen sich jedoch, genauso wie die des Feudalismus, als sehr schwach, konnten nicht standhalten, mussten zurückgezogen und für bankrott erklärt werden. Die russische Revolution von 1917 erweckte die Chinesen und sie lernten etwas Neues kennen, den Marxismus-Leninismus. Die Entstehung der Kommunistischen Partei in China war ein epochemachendes Ereignis (…) Seitdem die Chinesen den Marxismus-Leninismus beherrschen, haben sie aufgehört, geistig passiv zu sein, und haben die Initiative ergriffen. Von diesem Augenblick an muss die Periode der jüngsten Weltgeschichte, in der man auf die Chinesen und auf die chinesische Kultur herabgeblickt hatte, abgeschlossen sein.“

Der Marxismus-Leninismus ist die nach langer Suche endlich gefundene Wahrheit der ideologischen Waffe, die in der Lage ist, den Sieg der nationalen Revolution in China zu gewährleisten und das Land dahin zu bringen, die halbfeudalen und halbkolonialen Verhältnisse zu überwinden. Diese Suche hat schon mit den Opiumkriegen begonnen, noch vor der Entstehung des Marxismus-Leninismus, ja noch vor dem Marxismus überhaupt: Im Jahre 1840 war Marx nur ein junger Student. Es ist nicht der Marxismus, der die Revolution in China hervorruft, sondern der hundertjährige Widerstand des chinesischen Volkes, das nach mühsamer Suche sein volles Selbstbewusstsein in der Ideologie findet, die die Revolution zum Sieg führt. Zusammen mit der „Longue durée“ taucht eine weitere wesentliche philosophische Charakteristik des chinesischen Kommunismus auf, die von Mao 1958 folgendermaßen synthetisch zusammengefasst wurde. „Die universalen Wahrheiten des Marxismus müssen durch die konkreten Bedingungen der verschiedenen Länder vervollständigt werden, und es gibt eine Einheit zwischen Internationalismus und Patriotismus.“

Nationale Unabhängigkeit und ökonomische Entwicklung

351203 China - Die Dialektik der Revolution - KPCh, Mao, Marxismus, Revolution, Russland, Sozialpakt, VR China - Hintergrund
Kommunikationsmiliz der Maschinenfabrik Huixian (Foto: China Youth Daily)

Das Jahr 1949 bedeutet also den Triumph einer Revolution, die – zumindest in ihrer ersten Phase – einen antikolonialen und antifeudalen Inhalt annehmen will. Aber was bedeutet das konkret? Was den ersten Punkt betrifft, so muss man sich vor Augen halten, dass China vom Opiumkrieg an die Amputation riesiger Territorien erleiden musste. Zum Zeitpunkt der Revolution von 1911 hoffen einige Patrioten noch, diese wiedergewinnen zu können. Sechs Jahre später scheinen diese Hoffnungen neuen Aufwind zu bekommen, weil in der soeben entstandenen Sowjetunion sich Karachan, der stellvertretende Volkskommissar des Äußeren, dazu bereit erklärt, die China vom zaristischen Russland aufgezwungenen Verträge für ungültig zu erklären. Es geht also darum, ein für allemal der Zerstückelung des nationalen Territoriums ein Ende zu bereiten. Selbst wenn sie aufgenötigt sind, werden die unter der Drohung der Kanonenboote und der Invasionsheere unterzeichneten Verträge anerkannt; nicht mehr geduldet werden kann die Amputation von Territorien, die aufgrund derselben Verträge integraler Bestandteil Chinas sind. Die Rückgewinnung Taiwans drängt sich auf. Es ist eine von Entschlossenheit, aber gleichzeitig von Mäßigung gekennzeichnete Politik. Ein Vergleich kann hier signifikant sein: Im Jahre 1961 beeilt sich die indische Führung, mit Waffengewalt Goa zurückzugewinnen, das damals noch portugiesische Kolonie war; die chinesische Führung wartete dagegen geduldig, dass der „Mietvertrag“ für Hongkong und Macao ablief.

Die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und der territorialen Integrität führt zu einer Reihe von tiefgreifenden Umwandlungen auch im Inneren. Schon vor der Machtübernahme lenkt Mao die Aufmerksamkeit auf den Wunsch Washingtons, dass China „vom amerikanischen Mehl abhängig gemacht“ und damit „in eine amerikanische Kolonie verwandelt“ würde. Die neuen sozialen Verhältnisse sollen in erster Linie die ökonomische Entwicklung gewährleisten, die vonnöten ist, um dem Programm der nationalen Wiedergeburt Konkretheit zu verleihen.

1946 rief Mao dazu auf, nicht zu vergessen, dass, trotz der Machtübernahme durch die Kommunisten, China sich noch in erster Linie durch Unterentwicklung auszeichnet: „Wir müssen dafür sorgen, dass alle Funktionäre und das ganze Volk ständig daran denken, dass China ein großes sozialistisches Land und zugleich ein wirtschaftlich rückständiges, armes Land ist. Das ist ein großer Widerspruch. Damit unser Land reich und stark wird, sind einige Jahrzehnte harten Kampfes notwendig.“

Zu diesem Zeitpunkt scheint er den Hauptwiderspruch nicht im Konflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu ermitteln, sondern vielmehr im Missverhältnis zwischen Sozialismus und Rückständigkeit. Welche Haltung sollte man also der nationalen Bourgeoisie gegenüber einnehmen?

„Dass unsere Politik in den Städten nach rechts abgewichen sei, scheint auf den ersten Blick einzuleuchten, denn wir haben uns verpflichtet, für die Kapitalisten zu sorgen und ihnen sieben Jahre lang eine feste Verzinsung zu gewähren. Was werden wir tun, wenn die sieben Jahre um sind? Das werden wir dann sehen. Es wird wohl besser sein, die Sache weiter so zu handhaben, das heißt ihnen weiterhin einen gewissen festgelegten Zinsbetrag zu geben. Mit solch einer kleinen Geldsumme kaufen wir uns diese Klasse (…) Indem wir uns diese Klasse kaufen, berauben wir sie ihres politischen Kapitals und bringen sie so zum Schweigen.“

Es geht also darum, zwischen ökonomischer Expropriation und politischer Expropriation der Bourgeoisie zu unterscheiden. Nur die letztgenannte muss strikt durchgeführt werden, während die erste, wenn sie nicht in ganz bestimmten Grenzen verläuft, riskiert, die ökonomische Entwicklung zu kompromittieren, die die territoriale Integrität und die Wiedergeburt des Landes gewährleisten soll, und damit die Einhaltung des Sozialpakts, aufgrund dessen die Kommunisten die Macht erobert haben.

1954 hatte Mao von „drei Fünfjahresplänen“ gesprochen, um für die Industrialisierung „die Grundlage zu schaffen“, und hatte dann hinzugefügt: „Ich denke, es werden für den Aufbau unseres Landes zu einem großen sozialistischen Land wohl etwa fünfzig Jahre, zehn Fünfjahrespläne, notwendig sein.“ Ähnlich hatte er sich 1955 ausgedrückt: „Für den Aufbau eines starken, hochindustrialisierten sozialistischen Landes werden einige Jahrzehnte harter Arbeit, sagen wir, fünfzig Jahre notwendig sein, das heißt die ganze zweite Hälfte unseres Jahrhunderts.“

Während sich der Konflikt mit der Sowjetunion immer mehr zuspitzt, werden die für die ökonomische Entwicklung programmierten Zeiten jäh beschleunigt. In seinem Bericht auf dem VIII. Parteikongress im Jahre 1958 lanciert Liu Schao-Tschi erneut eine Mao zugeschriebene Losung: „England in fünfzehn Jahren erreichen.“ Die Furcht vor einer internationalen Isolierung treibt zur forcierten Beschleunigung. Die Resolution von Wuhan aus dem Jahre 1958 besagt: „Eine Fabrik ist ein Militärlager. Vor den Maschinen ist der Arbeiter diszipliniert wie der Soldat.“ Diese Militarisierung der Wirtschaft, noch stärker akzentuiert dadurch, dass tatsächlich eine schwere Kriegsgefahr besteht, stimuliert einen starken Gemeinschaftssinn, einen radikalen Egalitarismus, eine Kriegskameradschaft, die als der Anfang des Kommunismus empfunden und gepriesen werden (eine analoge Dialektik hatte sich in Sowjetrussland in der Phase des „Kriegskommunismus“ entwickelt).

Die Hoffnungen der Verwirklichung des Sozialpakts (und der Ziele der Modernisierung und Vervollständigung der nationalen Einheit) sind jetzt auf die Wiederbelebung der Weltrevolution gesetzt, angeregt von der unerhörten revolutionären Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb Chinas. Die Hoffnungen scheinen gut begründet. In jenen Jahren wird die antikolonialistische Bewegung immer stärker und es gelingt dem Imperialismus nicht, sie einzudämmen; trotz allem erweist er sich auf strategischer Ebene als „Papiertiger“. Einer nach dem anderen fallen die Stützpunkte der Großmächte in der Dritten Welt. In großen Schwierigkeiten befindet sich auch der Neokolonialismus, wie zum Beispiel die kubanische Revolution beweist. Insgesamt ist die kapitalistische Metropole dabei, die Kontrolle über die Peripherie zu verlieren; in voller Entfaltung ist vielmehr ein Prozess, der dazu führt, dass das Land die Stadt einkreist. Die Dynamik, die zum Triumph der chinesischen Revolution geführt hatte und die den unaufhaltsamen Vormarsch der nationalen Befreiungsbewegungen kennzeichnet, diese Dynamik nimmt inzwischen planetarische Dimensionen an.

Aber diese Strategie scheitert. Ebenso wie sich das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Russland zu einem gewissen Zeitpunkt mit der im Westen ausgebliebenen Revolution abfinden musste, ist China gezwungen, sich mit der in der Dritten Welt ausgebliebenen Revolution und mit der ausgebliebenen Niederlage des Imperialismus abzufinden.

Die Neuformulierung des Sozialpakts von 1949

Verschwunden war die Illusion, man könnte die Entwicklung der Produktivkräfte dauerhaft vorantreiben, indem man permanent an die revolutionäre Begeisterung der Massen appelliert. Im Mai 1974, bei einem Gespräch mit dem ehemaligen britischen Ministerpräsidenten Edward Heath, zieht Mao eine bittere Bilanz mit starken selbstkritischen Akzenten. Auf eine Beobachtung seines Gesprächspartners antwortend, nach der es Schicksal aller großen Staatsmänner sei, Fehler zu begehen, erklärt der Präsident der KPCh: „Meine Fehler sind ernsthafter. Achthundert Millionen Menschen müssen essen, und außerdem ist die chinesische Industrie unterentwickelt. Ich kann mich nicht sehr rühmen, was China anbetrifft. Euer Land ist entwickelt und unseres ist unterentwickelt.“ Zweifellos war einer der beiden Bestandteile des Sozialpakts von 1949 in Schwierigkeiten geraten. Was den anderen angeht, war seine Krise schon vorher deutlich geworden: Die Kämpfe am Ussuri im Jahre 1968 hatten gezeigt, dass China militärisch zwei Fronten ausgesetzt war; es konnte sich sogar eine Neuauflage der Situation von 1900 ergeben, als eine Koalition von acht Mächten (Vereinigte Staaten und Russland inbegriffen) gegen das große asiatische Land einen Kreuzzug zur Verteidigung der „Zivilisation“ organisiert hatte. Letztendlich gab es die Gefahr, dass jene Periode der Demütigung, Unterdrückung und territorialen Zerstückelung wiederauflebte, die die KPCh ein für allemal abzuschließen versprochen hatte.

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Eine Familie beim Schmieden von Eisen 1973 in den Taihang-Bergen von Linzhou. (Foto: Wang Shuzhou)

In China war eine politische Wende nötig, die die Aufgabe hatte, den Sozialpakt von 1949 wiederaufzunehmen und zu bestätigen. Darüber war sich schon Mao klar, zumindest was das Ziel der Verteidigung der territorialen Integrität und der nationalen Wiedergeburt betraf: Im Gefolge des Tauwetters mit den Vereinigten Staaten gelang es China, die Führung Taiwans diplomatisch zu isolieren und eine triumphale Aufnahme in die UNO und in ihren Sicherheitsrat zu erzielen. Deng Xiaoping verstand, dass die Politik der Öffnung auch zur Erreichung des zweiten Ziels des Sozialpakts von 1949 notwendig war. Mit seiner Handlungsweise schloss er an eine Debatte an, die eine lange Geschichte hinter sich hat. Am Vorabend der Gründung der Volksrepublik China hatten sich innerhalb der breiten Einheitsfront, die zum Sieg geführt hatte, Stimmen erhoben, die dazu aufforderten, eine Politik des Einvernehmens mit Washington zu suchen. Diesen hatte Mao geantwortet: „Es trifft zu, dass es in den USA Wissenschaft und Technik gibt. Doch bedauerlicherweise befinden sich diese in den Händen der Kapitalisten, nicht in den Händen des Volkes, und sie werden dazu verwendet, im Inland das Volk auszubeuten und zu unterdrücken und im Ausland Aggressionen durchzuführen und Völker abzuschlachten.“

Was 1949 nur eine mögliche Option war, wird immer mehr zu einer obligaten Wahl, nachdem zunächst die Krise und später die Auflösung des „sozialistischen Lagers“ und der Sowjetunion zu einer Situation führt, die sich durch eine wissenschaftliche und technologische Monopolstellung des Westens unter der Führung der USA auszeichnet, die einzig in der Geschichte dasteht. Das Ausbleiben der Industrierevolution hatte, unzertrennlich verbunden mit der kolonialistischen und imperialistischen Aggression, die Tragödie Chinas im 19. und 20. Jahrhundert bestimmt. Diese Katastrophe durfte sich nicht mehr wiederholen.

Nach Deng dagegen „kann es keinen Kommunismus mit dem Pauperismus oder Sozialismus mit dem Pauperismus geben“; es ist ein Widerspruch in sich selbst, von „armem Kommunismus“ zu sprechen. Der Sozialismus und der Kommunismus haben nichts zu tun mit der egalitären Verteilung des Mangels und des Elends: In erster Linie „bedeutet Sozialismus Eliminierung des Elends“ und Entwicklung der Produktivkräfte.

Deng gibt weiterhin die für Mao so wichtige Losung aus, dass „nur der Sozialismus China entwickeln kann“. Für Mao ist 1949 die endlich gefundene Wahrheit der ideologischen Waffe, die die chinesische antikoloniale und antifeudale Revolution gewährleisten kann, der Marxismus-Leninismus; für Deng ist diese Waffe ein Marxismus-Leninismus, der sich von den populistischen und pauperistischen Verkrustungen befreit hat.

Auf dieser Grundlage entwickelt die KPCh gestern wie heute eine Politik der Einheitsfront und empfiehlt den Sozialismus und die führende Rolle der Kommunisten als den Hauptweg, der zur Rettung und zur Wiedergeburt der chinesischen Nation als Ganzes hinführt: „Wenn ihr vom Sozialismus abweicht, wird China unvermeidlich in den Halbfeudalismus und den Halbkolonialismus zurückfallen.“

(Aus dem Italienischen übersetzt von Erdmute Brielmayer)

Das Jahrhundert der Demütigung
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war China die größte Wirtschaftsmacht. Der aufsteigende britische Kapitalismus hatte um 1820 noch ein Handelsdefizit von 20 Millionen Pfund aufgrund des Teehandels. Die britische „East India Company“ begann daraufhin systematisch mit dem illegalen Export von Opium nach China. Durch die Ausweitung der kapitalistischen Produktion in Britannien geriet das chinesische Kaiserreich ökonomisch ins Hintertreffen. Die Überschwemmung Chinas mit Rauschgift führte zu einer menschlichen Katastrophe, die verstärkt wurde durch mehrere Naturkatastrophen. Die chinesische Regierung versuchte dem entgegenzuwirken und ging gegen den Opiumschmuggel vor. Britannien überfiel China in den zwei Opiumkriegen von 1839 bis 1842 sowie 1856 bis 1860. China wurde zur umfassenden Öffnung seiner Märkte auch für das Rauschgift gezwungen und musste darüber hinaus Gebiete an Britannien abtreten, wie 1842 etwa Hongkong. Innerhalb weniger Jahrzehnte zerfiel das einstige Weltreich und stieg immer weiter ab. Ende des 19. Jahrhunderts erlitt das Kaiserreich zahlreiche militärische Niederlagen. Die aufstrebenden imperialistischen Staaten verwandelten das Land mehr und mehr in eine Kolonie. Mit jeder militärischen Niederlage hatten sie dem Kaiser Verträge aufgezwungen, die die Abhängigkeit verstärkten und ihn zu Gebietsabtretungen zwangen. Im Jahr 1911 wurde die Qing-Dynastie gestürzt und eine bürgerliche Republik errichtet. Der neuen Regierung gelang aber keine Konsolidierung der Macht, insbesondere als China in den Ersten Weltkrieg verwickelt wurde, nachdem Japan 1914 die deutsche Kolonie Tsingtau eingenommen hatte. Durch den Eintritt in den Krieg aufseiten der Alliierten erhoffte sich die chinesische Regierung sowohl den Schutz vor weiteren Annexionen durch Japan als auch die Rücknahme der aufgezwungenen Verträge. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Die imperialistischen Mächte wollten nicht auf ihren Kolonialbesitz verzichten. Am 4. Mai 1919 protestierten dagegen Studenten in Peking – der Beginn der modernen nationalen Befreiungsbewegung Chinas. Longue durée: Geschichtswissenschaftlicher Fachbegriff, der darauf verweist, dass es unterschiedliche Zeitebenen der geschichtlichen Entwicklung gibt. Die lange Dauer (Longue durée) zielt auf die Untersuchung der langsamen und langfristigen Veränderungen ab. Kämpfe am Ussuri: Der Ussuri ist ein Nebenfluss des Amur, der teilweise Grenzfluss zwischen Russland und China ist. Auf dem Höhepunkt der chinesisch-sowjetischen Konflikte kam es an diesem 1969 zu bewaffneten Auseinandersetzungen um einige Inseln entlang des Grenzflusses, die das zaristische Russland besetzt hatte. 1995 erkannte Russland Chinas Anspruch auf die Inseln an und der Konflikt konnte gelöst werden.

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"Die Dialektik der Revolution", UZ vom 1. September 2023



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