Die DDR in den heutigen Schulbüchern

Die verordnete Sicht

Von Herbert Becker

Der „Unrechtsstaat DDR“ ist nicht nur ein seit Jahren gebrauchter Begriff in den Medien, in Talkshows, in sogenannten Dokumentationen und in den Parlamenten. Der damit verbundene Versuch, die 40 Jahre Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden völlig zu delegitimieren, wird auch unternommen in den Schulbüchern und Lernmaterialien, die entsprechend gestaltet sind.

Dabei greifen manche Sichtweisen zurück auf den vulgären Antikommunismus der Adenauer-Zeit, manches wirkt zwar wie ein Versuch, differenzierter vorzugehen, um die Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen nach der Konterrevolution von 1989/90 zumindest in Ansätzen abzubilden.

Einige wenige Auszüge aus den Schulmaterialien mögen beide Ansätze verdeutlichen:

Der Kalte Krieg

„Die Schülerinnen und Schüler vertiefen ihre Kenntnisse zu den unterschiedlichen Funktionsweisen von Demokratie und Diktatur. Das Themenfeld ermöglicht zum einen die Beschäftigung mit der Entwicklung der doppelten deutschen Vergangenheit in ihrem historischen Verlauf nach 1945 und bahnt zum anderen – trotz der deutschen Leitperspektive – auch einen europäischen Kontext an. Neben dem geschichtlichen wird zugleich der kategoriale Zugriff gewählt, der Demokratie und Diktatur unterscheidet und dadurch die freiheitlich-demokratischen Grundwerte historischer Bildung akzentuiert.“ Vorgeschlagen wird dann eine Geschichtsdarstellung, die beide deutschen Staaten zwischen den „Großmächten“ USA und UdSSR als Spielbälle sieht, die zwischen Konfrontation und Entspannung ihre Wege suchten und fanden. Behauptet wird dann, den „Gefährdungen der Demokratie konnte nur begegnet werden durch die wehrhafte Demokratie, die sich der Diktatur in der DDR entgegenstellte“.

Ehrenwerter Antifaschismus?

Mit diesem Fragezeichen versehen, beschäftigen sich die Schulbücher mit den unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Prozessen, mit jüngster deutscher Geschichte, mit Faschismus und Widerstand, umzugehen. Beispielhaft wird Kurt Goldstein ausführlich vorgestellt, „als jüdisch-stämmiger Kommunist, Auschwitz- und Buchenwald-Überlebender, ging er 1950 in die DDR und machte später als SED-Propagandist und Rundfunkintendant Karriere. Doch die DDR hatte aus seiner Herzensangelegenheit – einem Antifaschismus aus Lebenserfahrung und Überzeugung – eine Staatsideologie gemacht. Die Schüler ergründen, was dies für Goldsteins Leben bedeutete. Verstrickung und Verrat.“ Allgemein heißt es, „im Zuge der Entnazifizierung wurden in der SBZ tausende Richter, Lehrer, Verwaltungsangestellte und Verantwortungsträger entlassen und Nazis und Kriegsverbrecher enteignet. 1949 erklärte die SED, dass mit der ‚antifaschistisch-demokratischen Umwälzung‘ der Nationalsozialismus mit Stumpf und Stil ‚ausgerottet‘ worden sei.“ Dieser korrekten Darstellung der Politik in der DDR wird dann aber die Behauptung zugefügt, „da aber die allerwenigsten DDR-Bürger Widerstandskämpfer gewesen waren, musste dieser Antifaschismus über Rituale, Denkmäler, Schule und Künste in das kollektive Gedächtnis eingepflanzt werden“.

„Fürsorgediktatur“

Mit diesem Begriff der wird ganz allgemein die „SED-Diktatur“ charakterisiert, die, „um den erzieherischen Anspruch (den ‚neuen Menschen‘) zu schaffen, einher ging mit umfassender Kontrolle und der ständigen Möglichkeit von Repressionen. Deshalb könne man die Interpretation der DDR als radikalisierter Wohlfahrtsstaat (…) mit den beiden etwas gegensätzlichen Begriffen der ‚Fürsorge‘ und der ‚Diktatur‘ umschreiben.“

Sportlerkarrieren in der DDR werden reduziert. Auch hier gilt der Begriff „Fürsorgediktatur“. Mit diesem Begriff wird der gesamte Leistungssport in der DDR beschrieben. So heißt es: „Einerseits ermöglichten Kinder- und Jugend-Sportschulen (KJS) den Weg zum Spitzensport unabhängig von den zeitlichen und finanziellen Ressourcen der Eltern. Andererseits wurden die Körper der jungen Sportler mit Medikamenten- und Hormongaben manipuliert.“ Anhand der Lebensläufe der Leichtathletin Ines Geipel, die als ‚Opfer des Doping-Sports‘ bis heute unterwegs ist, um das Sportsystem der DDR anzuklagen, und des legendären Radrennfahrers Gustav-Adolf („Täve“) Schur, der als „notorischer Geschichtsverleugner, der das missbräuchliche Tun im DDR-Sport banalisiert und die Opfer kalt diskreditiert“ habe, wird ein Bild der Sportpolitik der DDR gezeichnet, das den Tenor der Diktatur unterstreicht.

Die Anstrengungen des jungen Staates DDR, mit den ideologischen Verheerungen, die der Faschismus in großen Teilen der Bevölkerung hinterlassen hatte, vernünftig und zielgerichtet umzugehen, werden ebenfalls in Zweifel gezogen. Hier liest man: „Hoffnung setzte man auf drei Gruppen: auf die Arbeiter als gleichsam natürlich-fortschrittliche Klasse; die Jugend im Hinblick auf ihre zukunftsfrohe Begeisterungsfähigkeit; und auf die Frauen, die als friedensliebend und emanzipationsorientiert galten. Die 1965 erlassenen Gesetze, das ‚Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem‘ und das neue ‚Familiengesetzbuch‘, können als der Versuch gelesen werden, nun die Biografien in der DDR vom Kleinkindalter an rational und kontrolliert zu planen und Freiräume für abweichendes Verhalten durch Schließung von ‚Betreuungslücken‘ zu verhindern. In den Familien sollte der Sozialismus auch privat gelebt werden, die volle Erwerbstätigkeit beider Elternteile sollte durch staatliche Erziehungsangebote und die allmähliche Vergesellschaftung reproduktiver Aufgaben ermöglicht werden. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR sollten ihre Biografien ganz in den ‚Dienst am Sozialismus‘ stellen können.“

Eine eher kritische Sicht findet man in den Schul- und Lehrbüchern bei der Beurteilung, ob die DDR-Bürgerinnnen und -Bürger mit ihrem Wissen, ihrem Erlernten und Erfahrenen, in der neuen „größeren“ Bundesrepublik noch etwas anfangen konnten. Wie ein Mantra immer der gleiche Satz: „Nicht nur politisch (als Staat), sondern auch ökonomisch, sozial und kulturell (als Gesellschaft) war die DDR gescheitert, und dabei fühlten sich viele DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger mitgemeint.“ Die DDR war demnach das andere, das defizitäre Deutschland gewesen.

Die „Volksdemokratie“

In der Verfassung der DDR wird die Volkskammer als das höchste staatliche Organ festgeschrieben. Die Urteile über diese Verfassung lauten aber: „Es gab keine parlamentarische Opposition, es gab keine Gewaltenteilung, die Richter waren nicht unabhängig.“ Für die Schülerinnen und Schüler werden Lösungen vorgeschlagen, an den sie sich abarbeiten sollen. Ganz im Sinne der herrschenden bürgerlichen, kapitalistischen Sicht soll dabei von den Klassen brav nachgebetet werden: „In der DDR gab es keine echte Demokratie. Zwar stand in der Verfassung, dass ‚Alle Staatsgewalt vom Volke‘ ausgehe, aber letztlich bestimmte die SED, was im Staat passierte. In der Bundesrepublik ist das anders: Hier können die Wählerinnen und Wähler aus verschiedenen Parteien auswählen und haben eine echte demokratische Wahl. Die DDR war nicht das wirklich demokratische Deutschland.“

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"Die verordnete Sicht", UZ vom 22. November 2019



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