Zur kommentierten Neuauflage von Lenins Imperialismusschrift

Dieses Buch ist ein Muss!

Von HW

Wladislaw Hedeler, Volker Külow (Hrsg.) Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Verlag 8. Mai Berlin 2016, 420 Seiten, 24,90 Euro

Das Erstaunlichste an dieser Neuauflage von Lenins Imperialismusschrift ist ihre Existenz. Sicher: Marx kam zwischenzeitlich wieder in Mode, eroberte den ein oder anderen Seminarraum, manch wohlwollenden Kommentar im Feuilleton und gelegentlich sogar einen Zeitschriftentitel. Aber Lenin? Hier sind sich doch nun wirklich alle einig, vom aufgeschlossenen Redakteur und dem wohlwollenden VWL-Professor bis hin zur zukunftsorientierten Marxismus-Reformerin oder dem linksradikalen „Neuen Marxleser“: Lenin ist obsolet. Seine Theorie sei eine grobe Vereinfachung, wenn nicht gar machtpolitisch motivierte Entstellung des Marxschen Werkes, sein Imperialismusbegriff mehr Verschwörungstheorie denn ökonomische Analyse. Rückständige Ideologieproduktion, würdig vielleicht den randständigen Intellektuellen eines asiatischen Bauernstaates, jedoch tief unterhalb der Reflexionshöhe des westlichen Marxismus.

Wo alle einig sind, dort lohnt Zweifel umso mehr. Die aktuelle Neuauflage lässt zur Gewissheit geronnene Vorurteile platzen wie Seifenblasen im Sandsturm. Sie enthält neben der Wiedergabe von „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ Lenins 1915 verfasstes Vorwort zu Bucharins Schrift „Weltwirtschaft und Imperialismus“, sein „Der Imperialismus und die Spaltung der Sozialdemokratie“ von 1916 sowie das Manifest des Baseler Kongresses der Sozialistischen Internationale von 1912. Hervorzuheben ist der vorzügliche Herausgeberkommentar. Weit besser als in der in dieser Hinsicht dürftigen kanonischen Werkausgabe werden der theoriehistorische Kontext der Entstehung der wiedergegebenen Schriften, ihre im zeitgenössischen Umfeld herausragenden Spezifika, die politischen und biographischen Umstände ihrer Entstehung sowie ihre wechselhafte Rezeptionsgeschichte nachgezeichnet und kritisch reflektiert. Insbesondere die philologische Gründlichkeit, mit der Wladislaw Hedeler und Volker Külow den Leninschen Forschungsprozess erhellen und die riesige Masse des von Lenin rezipierten Materials darlegen, ist beispielhaft. Art und Umfang von Lenins Auseinandersetzung mit theoretischen Vorarbeiten sowie mit empirischem Material sind – soweit meine bescheidenen Kenntnisse reichen – im deutschen Sprachraum nie mit solcher Akkuratesse diskutiert worden. Da Lenin-Forschung in der Bundesrepublik pauschal unter Ideologieverdacht steht, sei auch diese, in zivilisierteren Ländern überflüssige Bemerkung angefügt: Dies alles geschieht nicht im Stil einer politischen Verherrlichung oder Hagiographie, sondern mit mustergültiger akademischer Korrektheit – und leistet Lenin eben damit den größten Dienst.

Wiewohl und gerade weil streng wissenschaftlich gehalten, ist der Herausgeberkommentar auch dem primär politisch interessierten Leser dienlich. Fachkundig thematisiert er zahlreiche am Vorabend und während des ersten Weltkrieges von Lenin bearbeitete und in harten Debatten mit Gegnern und Mitstreitern ausgefochtene Probleme, die aus heutigen Auseinandersetzungen ebenfalls vertraut sind. Drei Punkte seien pars pro toto benannt:

Lenins programmatische Aussage: „Die Aufgabe der Sozialdemokratie eines jeden Landes muss in erster Linie der Kampf gegen den Chauvinismus des betreffenden Landes sein“ ist nicht nur politische Grundüberzeugung und zentrales Motiv des Bruches mit der Mehrheitssozialdemokratie, die konsequente Auseinandersetzung mit chauvinistischen und sozialchauvinistischen Positionen innerhalb und außerhalb der Arbeiterbewegung hat engen Bezug zu seinem theoretischen Werk.

Lenins Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Monopol und Konkurrenz, seine Theorie der Verschärfung der Widersprüche zwischen kapitalistischen Konzernen, Kapitalfraktionen und folglich zwischen den von ihnen beherrschten Staaten und Staatenbündnissen stand in schroffem Widerspruch zu Positionen, die die Herausbildung eines „Weltmonopols“ bzw. eines „organisierten Kapitalismus“ prognostizierten und dementsprechend eine Abschwächung der innerkapitalistischen Widersprüche und Krisentendenzen erwarteten. Sie steht heute in schroffem Gegensatz zu Auffassungen, die die Herausbildung eines zunehmend einheitlichen weltbeherrschenden „transnationalen“ Finanzkapitals behaupten.

Lenin fasst den Imperialismus nicht lediglich als eine spezifische Politik auf, sondern als Epochenbestimmung. Seine Imperialismusschrift bleibt unverstanden, liest man sie allein als Erklärung eines vorgefundenen Zustandes, nicht als Bestandteil einer Theorie der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Der Versuch, formationstranszendierende historische Entwicklungstendenzen begrifflich zu fassen, wird in der Mehrzahl der heutigen Diskussionen großzügig übergangen. Dies ist ein Manko nicht nur der Lenin-, sondern auch der hegemonialen Marx-Rezeption.

Im Falle Lenin, dies sollte auch dem begriffsstutzigsten Leser begreiflich sein, lassen sich Theorie und Politik nicht trennen. Es ist daher zu begrüßen, dass die Herausgeber dem Band zwei Essays vorangestellt haben, die aktuell-politische Dimensionen der Lenin-Rezeption thematisieren. Der erste, der Feder von Dietmar Dath entstammend, liefert eine Lehrstunde in Sachen Theorie-Praxis-Dialektik, gewürzt durch eine polemische Abrechnung mit verschiedenen, einander doch oft so ähnlichen politischen Strömungen, denen allen gemein ist, dass eine angemessene Dosis Lenin sie vor dem gröbsten Unfug hätte bewahren können. Antideutsche, Pseudo-Antiimperialisten mit latent nationaler Schlagseite, Seminarmarxisten im Grand-Hotel Abgrund, aber auch jene, die die Feindschaft gegen die Feinde des zerstörten Sozialismus an dessen nüchterner Analyse hindert: Die Ohrfeigen, die sie einstecken müssen, schallen laut, und jede ist verdient. Daths Essay ist nicht nur in der Sache lesenswert, es ist ein literarischer Genuss. Man erfreue sich seiner bei einem guten Glas Rotwein (Norddeutschen, denen dies zu unproletarisch dünkt, dient auch gut gezapftes Pils).

Licht erscheint heller in Kontrast zu Schatten, so mögen sich die dialektisch geschulten Herausgeber gedacht haben. Nur dieser Grund macht es erklärlich, wieso der im Vergleich zum sonstigen Niveau der Texte so bescheidene Essay von Christoph Türcke ins Buch geraten konnte: Als Beispiel dafür, wie man sich die Lenin-Rezeption schenken kann.

Türcke fragt nach der aktuellen Relevanz Lenins, bezieht die Begriffe Imperialismus und Deregulierung aufeinander. Dabei referiert er manch Richtiges und manch Halbrichtiges, der konkrete Bezug zum Lenin-Text bleibt allerdings vage. Die angeführten Punkte tragen weder zum Verständnis der Leninschen Theorie bei noch nutzen sie spezifisch Leninsche Theoreme zum Verständnis aktueller Entwicklungen. Türcke lobt ebenso pflichtschuldig wie wenig konkret die Einsichten der Leninschen Imperialismusschrift, stellt sich in theoretischen Kernfragen jedoch gegen sie. Insbesondere Lenins zentrales Motiv, die Einordnung der imperialistischen Epoche in die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus, ist ihm ein Dorn im Auge. Als „starre Konzeption unaufhaltsamen historischen Fortschritts“ denunziert, gerät sie zur psychologistischen Erklärung des von Lenin zu verantwortenden Schreckens:

„Der hoch gebildete marxistische Intellektuelle und Drahtzieher wurde zum Revolutionsführer. Und nun konnte man förmlich miterleben, wie der Begriff des unaufhaltsamen historischen Fortschritts, der schon die Imperialismusschrift überschattet, ihre analytische Klarheit jedoch nicht verdunkelt hatte, in kürzester Zeit zu einem Bundesgenossen und Vorwand für die entschlossenste Durchsetzung all dessen wurde, was Lenin sich unter Sozialismus vorstellte. Der Imperialismuskritiker handelte selbst mehr und mehr imperial und tat das umso skrupelloser, je mehr er sich dabei im Einklang mit höheren historischen Notwendigkeiten fühlte. Sie heiligten ihm alle Mittel.“

Gesinnungsstark formuliert Türcke Sätze wie diesen: „Die sozialistische Rosskur, die Lenin einleitete, war furchtbar und ist durch nichts zu rechtfertigen.“

Der Notwendigkeit, ein solches Diktum mit Argumenten zu stützen, fühlte der Autor sich enthoben, weiß er sich hier doch im Einklang mit von rechts bis links unhinterfragtem bundesdeutschem Konsens. Sein bei dieser Gelegenheit unternommener Versuch, Rosa Luxemburg als Kronzeugin gegen die Bolschewiki ins Feld zu führen, ist Konfektionsware von der Stange und nicht origineller, besser begründet oder differenzierter als das, was die Bundeszentrale für politische Bildung dem fleißigen Gymnasiasten in gleicher Sache an die Hand gibt. Nichts spricht dagegen, im Rahmen einer Lenin-Ausgabe einem Lenin-Kritiker das Wort zu erteilen. Hilfreich wäre allerdings gewesen, der Kritiker hätte eine begründete Kritik vorgetragen, statt sich darauf zu beschränken, sattsam bekannte Ansichten in den Raum zu stellen.

Eine Antwort auf Türcke kann an dieser Stelle unterbleiben, sie findet sich bereits im Buch. Dietmar Dath hat sie so treffend und detailgenau geliefert, dass man sich fragt, ob Türckes Text ihm bei der Abfassung des seinen vorgelegen hat. Dem Leser sei empfohlen, den zweiten Essay zuerst zu lesen, der Genuss des ersten wird dadurch noch gesteigert.

Langer Rezension knappes Fazit: Dieses Buch ist ein Muss. Wer fünf Ausgaben der Leninschen Schrift im Bücherregal zu stehen hat, der stelle sich diese als sechste daneben. Wer bisher keine hat, der kaufe sie noch heute.

Vorabdruck aus Marxistische Blätter 4_2016.

Erhältlich auch beim Neue Impulse Versand, Hoffnungstr. 18, 45127 Essen

Tel.: 0201–236757, E-Mail:Info@neue-impulse-verlag.de

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"Dieses Buch ist ein Muss!", UZ vom 17. Juni 2016



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