Der Podcast „Boys Club“ und ein Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre: Die Causa Reichelt als Thema der Stunde

Ein Herz für Kapitalismus

Wenn du in die Crew hineinwillst/Bring mir den Kopf von Julian Reichelt.“ Wer die Kultur- und Gesellschaftsteile im deutschen Blätterwald mit Nachrichten bestückt, liest nicht mehr nur Martin Walser und schaut europäische Sängerkriege im Öffentlich-Rechtlichen, sondern hört auch der Phänomenologie des Zeitgeistes wegen so Straßenkompatibles wie etwa Deutschrap. Bei der seit einigen Wochen wieder die Feuilletons füllenden Debatte um den Fall Julian Reichelt mag die eine oder der andere die Berliner Rapper K. I. Z. im Ohr haben, die Obiges 2021, im Jahr der Enthüllung des Machtmissbrauchkomplexes im Axel-Springer-Haus, im Song „Rap über Hass“ verlautbarten.

Warum aber Mitte April dieses Jahres fast zeitgleich mit „Boys Club – Macht & Missbrauch bei Axel Springer“ ein breit rezipierter Podcast und mit Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ ein die Causa verhandelnder Enthüllungsroman aus der Promi-Riege der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur veröffentlicht wurden, lässt sich schwer mit neugewonnener Liebe zum HipHop erklären. Erklärbar ist es allemal.

„Boys Club“ ist Ergebnis einer einjährigen Recherche von Pia Stendera und Lena von Holt. Zwei Journalistinnen ohne bis dato gesetzten Namen, für das Projekt und dessen Popularisierung allerdings prominent und finanzstark unterstützt: „Der Pod­cast wurde von TRZ-Media ermöglicht“, sagte Stendera dem Schweizer Nachrichtenportal „Watson“ in einem Interview vom 22. April. „Das ist die Podcast-Produktionsfirma von Robin Droemer, Hanna Herbst und Jan Böhmermann. Jan Böhmermann hatte mit der Recherche, dem Inhalt und mit der Umsetzung nichts zu tun. Nichtsdestotrotz haben er und vor allem auch Hanna Herbst eine wahnsinnige Erfahrung darin, investigative Inhalte so zu erzählen, dass viele Leute sie mitkriegen und sich darüber Gedanken machen.“

In acht gut dreiviertelstündigen Episoden werden nicht nur Um- und Gegenstände des hausinternen Compliance-Verfahrens gegen den bis Oktober 2021 im Posten befindlichen Chefredakteur von „Bild“, Julian Reichelt, erläutert, dem über sein täglich Brot als kokainkonsumierender Choleriker und Intrigant hinaus von mehreren weiblichen Angestellten vorgeworfen wird, er habe seine Position missbraucht. Nachts versendete sexualisierte Nachrichten sind unter anderem Beweismittel (Stichwort: „Noch wach?“). In der Spotify-Produktion geht es darüber hinaus auch ums Ganze, zumindest was den Medienkonzern ausmacht: Vom wahnhaft antikommunistischen Verleger Axel Springer (1912 – 1985) in der britischen Besatzungszone 1946 gegründet, machte die Europäische Aktiengesellschaft 2019 einen Umsatz von 3,1 Milliarden Euro. Trotz fortwährender Krise der Branche erreicht deren Boulevardblatt „Bild“ immer noch eine Millionenauflage. Und das jahrzehntelangen Protesten entgegen: „USA aus Vietnam raus – bombt doch mal das Springer-Haus!“, schallt als O-Ton protestierender SDSler während des Vietnamkriegs durch den Podcast. Sehr erwartbar wurde diese Forderung vom Imperialismus nicht erfüllt. Klaus Staeck, verdienter Aktivist gegen das Hetzblatt, zeigt sich im Interview resigniert: „Was haben wir denn wirklich verhindert? Die ‚Bild‘-Zeitung lebt doch wie eh und je.“ Springers Sterben ist in dem Podcast indes auch leider nicht als Ziel ausgelobt.

Man würde sich schließlich nur ins eigene Fleisch schneiden, wenn der Links- den Rechtsliberalismus absägte. In Sachen Aufwiegelung gegen die DDR waren und militaristischer Mobilmachung sind die Springer-Medien schlicht integraler Bestandteil des Ideologieapparats der Bundesrepublik als monopolkapitalistisches Projekt. Das Schmuddelkind will man an der Heimatfront nicht missen, sei es auch nur, damit dessen krasseste Tiraden dafür herhalten, sich von den unschönsten Auswüchsen jenes Rechtsrucks vorgeblich distanzieren zu können, den auch der aktuell regierende Linksliberalismus munter mitträgt. Dessen Grundhaltung ist eine legalistisch-offiziöse: Der Akt des Abschiebens und Kriegführens ist okay, Zustimmung dafür in der Bevölkerung durch allzu leicht widerlegbare Fake-News zu provozieren aber nicht mehr. „Hadern mit dem Dummsein der Mehrheit“, heißt es im Stuckrad-Barre-Roman in Bezug auf den Ausgangspunkt der Me-too-Bewegung, der über allen schwebenden Traumfabrik von Los Angeles und dem Fakt, dass der Linksliberalismus die Schuld für die eigene Massenuntauglichkeit ebenjenen Vielen anheftet, die sich allzu leicht von parolenförmigen Überschriften einlullen lassen.

Trotzdessen profitieren letztlich alle abschiebenden und Bundeswehr-in-Marsch-setzenden Parteien von jener Stimmungsmache, vertreten sie auch als „linksgrünversifft“ nicht die favorisierte Kapitalfraktion des ossiphoben Springer-Vorstandsvorsitzenden Harald Döpfner. Dafür, dass sich hier welche vom selben Fleische balgen, ihre Wesensgleichheit aber nicht realisieren, hat Stuckrad-Barre in seinem Roman einen schönen Begriff gefunden: „Beobachtungsdummheit“.

Um die politische Makroebene aber und um andere, aber ähnlich gelagerte Fälle, übergriffige Gedenkstättenleiter à la Hubertus Knabe und mobbende NATO-Pressevertreter wie Deniz Yücel, geht es im „Boys Club“-Podcast so wenig, dass es in der letzten Folge dann noch exaltierter um alles geht. Aus einer Rede von Julia Becker, Aufsichtsratsvorsitzende der Funke-Mediengruppe, bei einer öffentlichen Veranstaltung zur Durchsetzung eines größeren Rechtsschutzes vor Machtmissbrauch am Arbeitsplatz, wird unter anderem explizit dieses zitiert: „Wenn wir die besten Köpfe für das, was wir tun, gewinnen, halten und weiterentwickeln wollen, darf es nie so etwas wie das Ausnutzen von hierarchisch bedingten Abhängigkeiten geben. Das ist nicht nur unmöglich und ekelig, sondern letztlich auch geschäftsschädigend. Denn die besten Köpfe, ganz egal, ob sie männlich oder weiblich sind, wollen nicht in einem Unternehmen arbeiten, in dem toxische Männlichkeit geduldet wird.“ Ein fortschrittlicher Kampf um Gleichberechtigung und gegen systemischen Sexismus wird hier munter ins Systemfahrwasser zurückgekippt. Der Linksliberalismus, so sehr er sich offen gegen jenes N-Wort ausspricht, er betreibt doch Nationalismus – den des Standorts Deutschland. Grabbelnde Chefs, sie sind schlecht fürs Image; wenn doch alle die gleiche Chance hätten, einer oder eine von hundert zu sein, der oder die die Karriereleiter erklimmt, dann könne man den Protest schon einstellen. Dann hätte die langjährige Freundschaft zwischen Döpfner und Stuckrad-Barre wieder eine Chance. Und von irgendwo schallen wieder K. I. Z. her, diesmal mit dem 2015er-Track „Boom Boom Boom“: „Ihr wollt Kapitalismus mit Herz.“

Stefan Gärtner schreibt in seiner Rezension von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ in der Tageszeitung „junge Welt“, es gäbe „ja auch gute Gründe anzunehmen, dass Widerstand und Karriere so schlecht zusammengehen wie Politik und Kunst“. Stuckrad-Barre selbst ist vom bei Springer als Schreiber angestellten Pop-Literaten zum Politaktivisten geworden, indem er die Vorfälle der Verlagsleitung meldete. Danach hat er sich wieder seiner Profession gewidmet und mit „Noch wach?“ einen Roman geschrieben, der der Prosa seines Verfassers entsprechend runtergehackt daherkommt, die literarische Version des gehegten Dreitagebartes. Schließlich musste „Noch wach?“ auch fertig werden, solange der Skandal noch bis in die Auslagen der Buchläden trägt.

Neues über die Causa Reichelt erfährt man beim Lesen derweil nicht wirklich, aber wer schlägt auch einen Roman auf und erwartet eine Pressemitteilung? Stattdessen werden menschliche Schwachstellen ausgestellt. Dazu gehört ein unerträglich großer Batzen Naivität, den der Ich-Erzähler, ein Selbstbildnis des Autors, fabriziert, wenn er personenkultisch an das Gute in seinem nur als dieser benannten „Freund“ (und später: „Ex-Freund“) glaubt, einen an Döpfner erinnernden Leiter einer TV-Anstalt. Die ist im Erscheinen gerade so weit vom Springer-Konzern entfernt, dass dem rechtliche Schritte dagegen verunmöglicht sind.

Der Plotbogen ist eine romantische Wiederkehr, die Reise eines Helden, dem die Frauen vertrauen: Als ewiger Hotelgast Hollywoods erlebt der Erzähler ineinander verschwimmende Tage am Pool; dann platzt dort die Bombe um Harvey Weinstein und im zum Erbrechen als grau und ewigwinterlich beschriebenen Berlin bahnt sich ebenso ein Skandal um sexuellen Missbrauch an; qua seiner Stellung als Chefkumpel wird der Erzähler zum Scharnier zwischen Konzern und Belastungszeuginnen. Vom Realkapitalismus aller Veränderungswünsche entledigt, landet er letztlich wieder auf der Liege an der US-Westküste. Seine engste Mitstreiterin Sophia hat sich wieder astrein in den Betrieb eingegliedert. Wo der Roman seine Schwächen hat, am Faktischen so nah entlanggebaut zu sein, liegen im Finale seine Stärken: Die Rolle des männlichen Ich-Erzählers als Hahn im Korb eben nur mit antipaternalistischen Kommentaren hier und da zu unterminieren ist schlicht faul geplottet. Den Fatalismus aufzuzeigen, dass man einen Laden nicht konsequent anprangern kann, in dem man weiterhin aufsteigen will, ist dagegen wiederum der Gewinn des Romans und das Manko des Podcasts, in dem die Mitmacherinnen und Krumenfresser der mittleren und unteren Reihen des Springer-Konzerns mehr oder minder pauschal als Opfer der dort sicherlich herrschenden „Wagenburgmentalität“ in Schutz genommen, fast verkindlicht werden.

Gegen Ende von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ erklärt am Poolrand eine, die den Kampf gefochten hat, einer, die überlegt, ihn zu fechten: „Du musst vor allem auf dich aufpassen. Wie im Flugzeug, da sagen sie es ja vor jedem Start, wenn sie einem die Sicherheitsmaßnahmen erklaären: Helfen Sie zunaächst sich selbst – und erst dann anderen, die Hilfe brauchen. Ich meine, geht es irgendeiner Frau so richtig gut, die mit so was an die Öffentlichkeit gegangen ist?“

Rette sich, wer kann. Wer nicht, halt nicht. In jedem Fall: Dem Betrieb zum Wohle.


Pia Stendera und Lena von Holt
„Boys Club – Macht & Missbrauch bei Axel Springer“
Podcast / Spotify Studios

Benjamin von Stuckrad-Barre
„Noch wach?“
Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 25 Euro


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Ein Herz für Kapitalismus", UZ vom 16. Juni 2023



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