Wie Uwe Kolbe Brecht schaden wollte und sich übernommen hat

Ein Lehrstück über das Werfen mit Dreck

Von Rüdiger Bernhardt

Alle paar Jahre wieder: Uwe Kolbe ist nicht der erste und sicher nicht der Letzte in der Reihe derer, die das Bild Brechts zu beflecken versuchen.  „Unberatene / Können den Weg für die vielen / Nicht finden.“ (Aus Brechts Gedicht „ Frage“)

Alle paar Jahre wieder: Uwe Kolbe ist nicht der erste und sicher nicht der Letzte in der Reihe derer, die das Bild Brechts zu beflecken versuchen. „Unberatene / Können den Weg für die vielen / Nicht finden.“ (Aus Brechts Gedicht „ Frage“)

( Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0 / Montage: UZ)

Am 14. August jährt sich Bertolt Brechts Tod zum sechzigsten Mal, ein Anlass für die literarische und politische Welt, seiner zu gedenken. Das Pressefest der UZ sieht ein umfangreiches Programm vor, von Brechts Bemühen um Kunst und Wahrheit bis zum „bösen B. B.“, dem Kommunisten. Anlass ist dabei nicht nur der Todestag, sondern auch Brechts Aktualität und seine Absicht, mit Literatur zu belehren – man denke an Brechts Lehrgedichte –, das Gelernte umzusetzen und die Gesellschaft zu verändern.

Den Gedenktag anders vorbereitet hat der Schriftsteller Uwe Kolbe mit seinem Buch „Brecht. Rollenmodell eines Dichters“. Vor allem Brechts Absicht, mit Literatur politisch zu wirken, treibt ihn um: Nur in „einer offenen Gesellschaft“ sei wirkliche Kunst möglich, allerdings nur als „Design eines repräsentativen Baus“ und ähnlich. Dagegen sei nur in einer „geschlossenen“, abgeschotteten Welt Literatur bedeutsam geworden, allerdings nur als Bestätigung des „totalitären Staates“. Damit wird zwar ein großer Teil der deutschen und der Weltliteratur ausgeklammert – Dichtungen aller Befreiungs- und Freiheitskriege, revolutionäre Kampfdichtungen, aber auch die Dichtungen großer Perioden wie des Sturm und Drang, des Vormärz, der Jungdeutschen usw. –, aber was soll’s, wenn man nur Brecht „endlich Schaden zufügen kann“, wie Kolbe in einem Interview mit dem MDR sagte.

Grenzenloser Hass

Er kann Brechts ungeheure Wirkungen weltweit nicht übergehen und nicht leugnen, deshalb nutzt er die Denunziation: „Er lieferte die deutsche Sprache im 20. Jahrhundert schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr den Zwecken der Partei neuen Typs von Lenin und Trotzki, der III. Kommunistischen Internationale (Komintern) und kaum später auch den Parteiführern Stalin und Ulbricht aus.“ Abgesehen von faktischen Ungenauigkeiten – der Parteibegriff wurde 1934 in die Verfassung aufgenommen, Brecht wurde aber 1928 dreißig und Ulbricht war nicht „kaum später“, sondern erst ab 1950 Generalsekretär einer Partei – ist keine Rede von Literatur, Kunst oder Ästhetik, sondern von „Auslieferung“, also von Verrat.

Grenzenloser Hass und das Gefühl, gegen diesen Dichter und Denker nichts ausrichten zu können, erklären dieses Buch, das in drei Thesen gipfelt: Brecht habe sich immer hinter Masken – bevorzugt hinter der Martin Luthers, „mit dem gemeinsam er das Kommunistische Manifest gelesen habe“ (?) – verborgen, die in einem Grau gemündet seien, das sich als Dichtermaske „in das Grau eines grauen und grauenhaften Staats“ eingebettet habe, aus der Beschäftigung mit dem historischen Materialismus sei „Affirmation“ geworden. Das sei, so die zweite These, letztlich auch ein Grund gewesen, weshalb die DDR so lange überlebt hätte. Drittens schließlich belässt es Kolbe nicht bei der Verurteilung Brechts, sondern behauptet: „Das Schlimmste: Nach Brecht kam kein grundlegend neuer Gedanke dazu.“ Bei der Gelegenheit wird neben der „Intelligenzija ostdeutscher Prägung, solange sie im Staat blieb“, auch gleich das linke Denken der Bundesrepublik verurteilt, weil man sich auf die „Mitgestaltung der sozialistischen Gesellschaft“ eingelassen habe.

Das ist Kolbes geistiges Zentrum: Sich für eine sozialistische Gesellschaft einzusetzen, endet im künstlerischen Versagen, in Ideenlosigkeit und schließlich in Verbrechen. Die Diktatur des Proletariats setzt Kolbe bevorzugt mit einer Diktatur von „Verbrechern“, „Banden, Cliquen“ gleich, auch sei diese Diktatur „Vorbild für jede Terrororganisation bis heute“; das Verhalten Brechts und seiner Nachfolger wäre so „Teilhabe am Verbrechen“ gewesen. Als Repräsentanten für Brechts Verhalten sieht Kolbe Galilei im gleichnamigen Stück: Er geht „nicht den Weg des Widerstands“, sondern richtet sich ein „unter kläglichen Umständen“, „schweigt, lügt“, duckt „sich unter inquisitorischer Macht weg“ usw. Von den historischen Umständen, die zu dem Galileo Galilei führten, ist nichts zu finden.

Legenden und Fälschung

Kolbe ist ein bekannter Provokateur; entsprechend sind seine Mittel. Er belässt es nicht bei der Aburteilung Lenins, sondern stellt Trotzki neben ihn, um Varianten linken Denkens in die Verurteilung einzubeziehen, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss und Dürrenmatt werden abgestraft und später wird auch Scholochow als Versager diffamiert, der von Heiner Müller zur „besseren Literatur“ gerechnet werde, dessen „Stiller Don“ aber von den sowjetischen Sicherheitsorganen „durch geheime Ghostwriter“ geschaffen worden sei – was für begabte Ghostwirter! Dass dieses Gerücht mehrfach widerlegt worden ist, wird mit keiner Silbe angedeutet.

In der „Auswahl“ der Kolbeschen Brecht-Schüler von Heiner Müller, Volker Braun bis zu Thomas Brasch, die keine Gnade finden, taucht auch der peinliche Barde Wolf Biermann auf; Kolbe strickt die Legende von Biermanns Auftrittsverbot von 1965 bis 1976 weiter – ich habe Biermann mehrfach in Weimar in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, sogar vor internationalem Publikum, erlebt.

Biermann findet bei Kolbe keine Gnade als Brecht-Schüler, als wäre er jemals einer gewesen, wird aber, weil sein „störrischer Kommunismus“ – was auch immer das sein mag – weggebrochen sei, wieder als Dichter zugelassen. Ähnlich sortiert Kolbe die Brecht-Sekundärliteratur: Wer mehr über Brecht wissen wolle, habe „den alten Mittenzwei“ und den „jüngeren Fuegi gelesen, bis ihm hie und da übel wurde“. Steht Mittenzwei für eine objektive und seriöse Darstellung, so war Fuegis Reduktion Brechts auf einen die Frauen ausbeutenden Mann bereits ein grober Versuch der Demontage des Dichters. Doch eigentlich ist nicht einmal Fuegi nach Kolbes Sinn, „woanders ergibt sich Interessanteres“, bei Reich-Ranicki und in Michael Rohrwassers „Der Stalinismus und die Renegaten“ etwa.

Mehrfach erweckt Kolbe den Anschein, als seien seine Äußerungen subjektiv, privat und erhöben keinen Anspruch auf Gültigkeit. Dem steht die „Auswahl“ benutzter und empfohlener Literatur entgegen, in der die objektiv gesicherte Wissenschaft (Jan Knopf, Ilja Fradkin u. a.) nebenbei oder nicht genannt wird, dafür einseitig denunziatorische Literatur eines John Fuegi, eines Melvin Lasky und anderer.

An die Stelle der literaturwissenschaftlichen Kategorie der „Metapher“ tritt für Kolbe im Falle Brechts immer das denunzierende „Klischee“, beginnend mit den „Dreigroschenoper-Klischees“; was Brecht dichtete, „war selbstverständlich nicht originär“. An Stelle des Begriffs „Traditionsbeziehung“ erscheinen „Maske“ oder „Rolle“, tautologisch sinnfrei als „Rollenmodell“. Es bleibt, nach Kolbe, von der Literatur der DDR, einem sowieso nur „vergeblichen Zweig der deutschen Literatur“, nicht viel: Johannes Bobrowski, Erich Arendt, Uwe Johnson, Elke Erb, Wolfgang Hilbig; die Biografien von Bobrowski und Arendt müssten, mindestens, um ihre politische Dimension verkürzt werden, damit sie in Kolbes Schema passen. Anna Seghers, Arnold Zweig, Christa Wolf, Christoph Hein und viele andere haben sowieso keinen Platz darin. Um dieses Schema umzusetzen, scheute er nicht vor Einseitigkeiten, vorsichtig gesagt, zurück: Brecht habe sich der Fortschreibung von Mythen und „antiker Manier“, die jede Dichtung ausmache, widersetzt und sich von der Antike gern ferngehalten. Man hat Brechts Werk kursiv, wahrscheinlich gar nicht gelesen, werden die Mythen von Antigone bis zu Odysseus, von Aurora bis zum Trojanischen Krieg übersehen. Auch habe sich Brecht „den klassischen Versmaßen verweigert“; da hat Kolbe wohl den anderen Teil des Werkes nicht gelesen, von der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ über „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und „Coriolan“ bis zu zahlreichen Gedichten Brechts. Brechts Gedichte im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 wären veröffentlicht worden bei „Anlehnung an klassische chinesische Dichtung und sowjetische Bauvorhaben“, anderes wäre unveröffentlicht in der „Schublade“ geblieben. Brechts von Kolbe erwähnte kritische Gedichte („Das Amt für Literatur“ u. a.) wurden im Juli/August 1953 in der Berliner Zeitung und in Neue deutsche Literatur, sechs seiner Buckower Elegien, Ergebnis der Beschäftigung mit dem 17.°Juni, in den Versuchen (1954) veröffentlicht. Unkenntnis Kolbes oder bewusste Fälschung?

Kolbes Prämissen sind so schlicht und falsch, dass sie Erstsemester eines literaturwissenschaftlichen Studiums nicht ansetzen würden. Sie sind nur aus dem Hass Kolbes gegen die DDR und gegen alles, was mit ihr zu tun hatte oder gar für ihre Prinzipien eintrat, zu verstehen. Dass ein Mensch für den Sozialismus unvoreingenommen eintritt, ist für Kolbe undenkbar und disqualifiziert diesen. Er geht davon aus, dass Brecht und alle, die sich mit ihm einließen oder in seiner Tradition stehen, aus Opportunismus zur DDR und zum Kommunismus gestanden hätten und zu feige waren, Kritisches offen auszusprechen. Brecht wäre ein „großer Lügner und Ausblender“ gewesen und habe „absichtsvoll gelogen und betrogen“, so Kolbe in besagtem Interview. Für Kolbe stimmen ferner Werk und Leben eines Schriftstellers überein. Zwar behauptet er mehrfach, „Ruhm, Geld, Herrschaft über Männer und Frauen, Zigarren“ bei Brecht spielten in seinem Pamphlet keine Rolle, aber er sieht durchgehend darin die Gründe für Brechts angeblichen Opportunismus; nicht Brechts Werk steht im Mittelpunkt, sondern der Umriss einer von Kolbe entworfenen fiktiven Person, die er „Brecht“ nennt.

Die Literaturgeschichte ist voll gegenteiliger Beispiele zu Kolbes These; in vielen Fällen hat man überhaupt keinen Autor, um sein Leben als Maßstab des Kunstwerkes nehmen zu können, oft ist das Leben der Gegensatz eines Werkes. Einen Höhepunkt seiner Klitterung erreicht Kolbe, als er den deutschen Faschismus relativiert und an dessen Stelle „die gemeinste, jedenfalls folgenreichste Lüge des 20.Jahrhunderts, den Sozialismus, setzt, die Brecht mitgetragen habe. Dessen Antifaschismus sei nicht mehr als eine „Attitüde“ gewesen, seine Beiträge „genial simple Worthülsen“. Andererseits wirft er „Ostdeutschland“ vor, die Vernichtung der Juden „marginalisiert“ zu haben, weil sie im Zusammenhang mit dem imperialistischen Krieg gesehen worden sei.

Brecht sitzt der Reaktion im Nacken

Da Kolbe außer seiner alles Sozialistische verurteilenden Grundhaltung kein erkennbares Geschichtsbild hat, sondern nur von rigoroser Ablehnung getrieben wird, ist ihm Dialektik fremd und historische Zusammenhänge versteht er nicht. Sprachlich schwurbelt Kolbe vor sich hin, ungenau bereits zu Beginn: So unterstellt er, meist würden Sinn und Zweck gleichgesetzt, ohne ein Beispiel zu bringen; Belesene wissen, dass hier zwei Denkansätze aufeinandertreffen. Das hätte Kolbe im Sprichwort erkennen können: „Der Zweck heiligt die Mittel“, dagegen Schillers „Was ist der langen Rede kurzer Sinn?“ Wenn Kolbe die Namen aufzählt, woher Brecht seine Masken bezogen habe, entstehen – wie auch an anderen Stellen des Textes – stilistische Blasen, unter denen die „gut durchgelüftete Poesie Walt Whitmans“ nur eine kleine ist.

Es hat immer Versuche gegeben, Brecht zu diskreditieren und zu demontieren, ein Zeichen dafür, wie er der Reaktion im Nacken sitzt. Wolfgang Staudte verfilmte 1963 die Dreigroschenoper als entpolitisierten Unterhaltungskitsch unter der Devise, Brechts politisches Anliegen sei nur Legende gewesen. Diese unverbindliche Verfilmung ist heute trotz hervorragender Schauspieler vergessen. Aber ich kenne keinen bisher, der einen so perfiden Versuch der Zerstörung Brechts unternommen hat wie Kolbe, aus dem Gefühl heraus, durch all seine bisherigen Provokationen seine Bedeutung noch nicht entscheidend verändert zu haben, vor allem aber in der Ahnung, dass Brechts Dichtung nicht nur eine andere Welt, sondern auch eine andere Gesellschaft will, in der Denken und Methode Kolbes lächerlich und überflüssig werden.

Uwe Kolbe: Brecht. Rollenmodell eines Dichters. S. Fischer Verlag 2016, 175 S., 18,99 Euro
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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Ein Lehrstück über das Werfen mit Dreck", UZ vom 1. Juli 2016



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