Georgi Walentinowitsch Plechanow (11.12.1856–30.5.1918)

Ein unermüdlicher Streiter für den Marxismus

Von Nina Hager

Lenin schrieb 1921, drei Jahre nach Plechanows Tod: „Nebenbei bemerkt, halte ich es für angebracht, die jungen Parteimitglieder darauf aufmerksam zu machen, dass man ein bewusster, wahrer Kommunist nicht werden kann, ohne alles, was Plechanow über Philosophie geschrieben hat, zu studieren – ich betone, zu studieren –, denn es ist das Beste in der ganzen internationalen marxistischen Literatur“. Und: „Zweitens sollte der Arbeiterstaat meines Erachtens von den Philosophieprofessoren verlangen, dass sie Plechanows Darlegung der marxistischen Philosophie kennen und es verstehen, den Studierenden diese Kenntnis zu vermitteln.“ (Lenin, Werke, Bd. 32, S. 85/86)

Von Plechanow existiert ein Bild aus dem Juni 1917. Es zeigt ihn und den Menschewiken Leo Deutsch, mit dem er einst – zusammen mit anderen – 1883 die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ gegründet hatte, vor dem Kriegsministerium in Petrograd. Beide bekunden darauf ihre Unterstützung für eine militärische Offensive der russischen Truppen – während im Land Millionen forderten, den Krieg endlich zu beenden.

Ein bewegtes, widersprüchliches Leben

Wer war Georgi Walentinowitsch Plechanow? Friedrich Engels schätzte seine Begabung und seine theoretische und praktische revolutionäre Tätigkeit hoch. In einem Brief an Kautsky vom 3. Dezember 1891 bezeichnete er Plechanows Artikel als ausgezeichnet. Auch Lenin schätzte ihn – auch nach dem Bruch zwischen beiden – als marxistischen Theoretiker hoch, kritisierte ihn aber oft auch hart.

Plechanow, Sohn eines Stabskapitäns a. D. und überzeugten Monarchisten, begann noch als Schüler mit dem Lesen verbotener Bücher revolutionärer Demokraten. Von 1874 bis 1976 studierte er am Petersburger Institut für Bergbau. 1875 schloss er sich den Narodniki, den Volkstümlern, an. Am 6. Dezember 1876 hielt er vor der Kasaner Kathedrale eine Rede auf der Kundgebung gegen die zaristische Selbstherrschaft und für Solidarität mit dem zu Zwangsarbeit verurteilten Nikolai Tschernyschewski.

Zweimal wurde er verhaftet. 1877 ging er für einige Monate ins westliche Ausland und Anfang 1880 für 37 Jahre ins Exil. In der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, England und Italien lernte er die westeuropäische Arbeiterbewegung kennen. Er studierte intensiv die Arbeiten von Marx und Engels.

Mit gleichgesinnten Freunden gründete er am 25. September 1883 in Genf die Gruppe „Befreiung der Arbeit“. Damit, mit seinen Übersetzungen von Werken von Marx und Engels und mit seinen vielen theoretischen Arbeiten wurde er zum Wegbereiter des Marxismus in der russischen Arbeiterbewegung und zum marxistischen Theoretiker.

Doch auch in der internationalen Arbeiterbewegung wie der deutschen Sozialdemokratie war er aktiv, bei der Gründung der II. Internationale 1889 dabei und arbeitete in ihrer Führung. Plechanow kritisierte jedoch die Führer der 2. Internationale, darunter auch Kautsky, wegen ihres unzureichenden Verständnisses für die Bedeutung der Philosophie als weltanschauliche Grundlage des Kampfes der Arbeiterbewegung und ihrer Partei. „Ohne revolutionäre Theorie“, hatte er schon 1883 in seiner ersten marxistischen Schrift „Sozialismus und politischer Kampf“ geschrieben, „gibt es keine revolutionäre Bewegung im wahrsten Sinne dieses Wortes … Eine ihrem inneren Gehalt nach revolutionäre Idee ist ein Dynamit eigener Art, das kein Sprengstoff der Welt ersetzen kann.“

Im Mai und Juni 1895 kam es im Exil in der Schweiz zu einer ersten Begegnung zwischen Plechanow und Lenin. In ihren Diskussionen ging es um die gemeinsame Herausgabe eines marxistischen Organs im Ausland zur revolutionären Propaganda unter den russischen Arbeitern. Es gab die Jahre der gemeinsamen Verteidigung der marxistischen Theorie, der Zusammenarbeit in der „lskra“ und der „Sarja“. Auch noch auf dem 2. Parteitag der SDAPR im Sommer des Jahres 1903 trat man übereinstimmend auf. Doch am 26. Dezember 1903 kam es zwischen beiden zum Bruch, der sich vertiefte, als sich Plechanow sich im Zusammenhang mit der Revolution von 1905 – 1907 und vor allem dem Moskauer Dezemberaufstand von 1905 opportunistisch verhielt: Man hätte keine Waffen einsetzen dürfen. Plechanow vermochte weder die tatsächliche Situation in Russland noch die neuen Aufgaben der Partei in der neuen Entwicklungsphase des Kapitalismus zu erfassen. Zwischen 1903 und 1917 verhielt er sich oft widersprüchlich: Auf der einen Seite trat er als Menschewik gegen den Kurs der Bolschewiki auf, auf der anderen Seite blieb er in der Philosophie der kämpferische Marxist. In den Jahren der Reaktion nach 1907 trat er gegen die Liquidatoren, die Gottsucher usw. auf, zu Beginn des 1. Weltkrieges ging er auf Positionen der Vaterlandsverteidigung über.

Nach der Februarrevolution 1917 kehrte Plechanow aus dem Exil nach Russland zurück. Von Lenin und den Bolschewiki trennte ihn die unterschiedliche Einschätzung der Februarrevolution und der Provisorischen Regierung. Er lehnte die Oktoberrevolution ab …

In der Philosophie jedoch vertrat Plechanow bis zum Ende seines Lebens konsequent den dialektischen Materialismus und verteidigte die Marxsche Lehre gegen jegliche Angriffe und Verfälschungen.

Das philosophische Erbe

Hier kann nur kurz angedeutet werden, welche Rolle Plechanow als marxistischer Theoretiker spielte. Dazu gehörten die konsequente Verteidigung der philosophischen Lehren von Marx und Engels und die entschiedene Kritik am Idealismus und Subjektivismus, an der Religion und am Mystizismus. Plechanow leistete einen bedeutenden Beitrag zur Erarbeitung einer marxistischen Geschichtsauffassung und einer marxistischen Geschichte der Philosophie. Im Zusammenhang mit Letzterem arbeitete er die historische Bedingtheit der verschiedenen Anschauungen, ihren Klassencharakter, ihre Leistungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und den Fortschritt der Erkenntnis, zugleich auch ihre Grenzen und ihre Bestimmtheit durch den gegebenen Wissenschaftsstand, durch die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und den Stand des Klassenkampfes heraus.

Plechanow war der Erste, der den Begriff „dialektischer Materialismus“ in der Arbeiterbewegung einbrachte. Dialektischer Materialismus war für ihn die Philosophie von Marx und Engels und die unverzichtbare weltanschauliche Grundlage der Arbeiterbewegung und ihrer revolutionären Partei. „Der dialektische Materialismus“, schrieb er 1894 in „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung“, „sagt wie Goethes Faust: ‚Im Anfang war die Tat’‘. Der dialektische Materialismus ist die Philosophie des Handelns. In einer Fußnote hieß es: „Wir gebrauchen den Terminus ‚dialektischer Materialismus’, weil er allein imstande ist, Marx‘ Philosophie richtig zu kennzeichnen.“ Der dialektische Materialismus ist in Plechanows Verständnis eine untrennbare Einheit von philosophischem Materialismus, materialistischer Dialektik und materialistischer Gesellschaftstheorie und Geschichtsauffassung. Es gab für ihn keine Zweiteilung der marxistischen Philosophie in einen dialektischen Materialismus und einen historischen Materialismus – und keine voneinander unabhängige Theorie und Methode. (Mallorny, S. 12)

Plechanow hat sich bei seinen philosophischen Aussagen übrigens wiederholt auf Erkenntnisse der Einzelwissenschaften, so auch der Physik, berufen.

Im Hinblick auf die Gesellschaft bedeutete die dialektisch-materialistische Herangehensweise für Plechanow vor allem die Beachtung des Verhältnisses von Basis und Überbau, die Rolle der Produktivkräfte. „Die Produktivkräfte … bestimmen … soziale Verhältnisse, d. h. ökonomische Verhältnisse“, schrieb Plechanow in „Grundprobleme des Marxismus“ (in deutscher Sprache 1910 erschienen).

Er legte Wert auf die tiefgehende historische Untersuchung der Klassenstruktur, die Aufdeckung der Ursachen und Entwicklungstendenzen der sozialen Gegensätze, der ökonomischen, politischen und ideologischen Konflikte und der ihnen zugrundeliegenden Klasseninteressen. „Dort, wo es Klassen gibt“, betonte Plechanow in seinem Vorwort zur zweiten Übersetzung des Manifests ins Russische, „ist Klassenkampf unvermeidlich. Dort, wo es Klassenkampf gibt, ist das Streben jeder der kämpfenden Klassen zum vollständigen Sieg über ihren Gegner und zur uneingeschränkten Herrschaft über diesen notwendig und natürlich.“ Er untersuchte sowohl die Rolle der Volksmassen wie auch die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte.

Im Zusammenhang mit dem Klassenkampf erläutert Plechanow die Marxsche Idee von der Diktatur des Proletariats. Plechanow hat selbst allerdings später in dieser Frage nicht immer diese Position bezogen. (Mallorny, S. 12/13)

Plechanows Verdienst bei der Popularisierung des dialektischen Materialismus und vor allem der Dialektik war groß. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wandten sich fortschrittlichen Arbeiter und Angehörigen der Intelligenz im beträchtlichen Maße dank der philosophischen Arbeiten Plechanows der dialektischen Weltanschauung zu. „Lenin würdigte die Verdienste Plechanows und betonte in diesem Zusammenhang: Plechanow lieferte die ernsthafteste Absage an die Metaphysik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In seiner Person hatte die marxistische Dialektik ihren würdigen Verfechter gefunden.“ (Geschichte der marxistischen Dialektik, S. 401)

Die Verteidigung der marxistischen Philosophie verband Plechanow mit der Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Gegnern der marxistischen Theorie, mit den Vertretern des Idealismus. Er wandte sich gegen solche Erscheinungsformen des Idealismus wie Subjektivismus und Voluntarismus, Agnostizismus, Skeptizismus und Fatalismus, Irrationalismus, Mystizismus und Religion.

Seit den neunziger Jahren wurde zum Hauptgegner die gesamte bürgerliche Philosophie und der unter ihrem geistigen Einfluss stehende und auch auf Russland übergreifende Revisionismus, der die Arbeiterbewegung lähmen und paralysieren sollte. Im Mittelpunkt der philosophischen Auseinandersetzungen stand zunächst der bürgerlich-liberale Neukantianismus. Als später eine neue Spielart des Revisionismus auftrat, diesmal gegründet auf die subjektiv-idealistische Philosophie des Empiriokritizismus, war Plechanow wieder unter deren Kritikern und setzte sich mit seinen Begründern Ernst Mach und Richard Avenarius und deren russischen Anhängern Bogdanow, Juschkewitsch und anderen auseinander. (Mallorny, S. 14) Heftig kritisierte er Eduard Bernstein, den Hauptvertreter des Revisionismus in der Arbeiterbewegung – auch über dessen philosophischen Dilletantismus empörte er sich.

„Wir wollen nur hervorheben, dass der einzige Marxist in der internationalen Sozialdemokratie, der an den unglaublichen Plattheiten, die die Revisionisten zusammenredeten, vom Standpunkt des konsequenten dialektischen Materialismus aus Kritik übte, Plechanow war.“ (Lenin, Werke, Bd. 15, S. 22)

Plechanow hat sich auch gegen andere bürgerliche Philosophen gewandt sowie gegen die philosophischen Revisionisten wie die sogenannten „Gottsucher“ und „Gottbildner“ der Reaktionsperiode in Russland nach 1907. Er führte dabei seine Kritik oft bis zur Aufdeckung der sozialen Wurzeln, des Klassencharakters und der sozialen Funktionen der idealistischen Anschauungen als Mittel der Apologetik der Machtinteressen der Herrschenden und der bestehenden Besitzverhältnisse. Dies zieht sich durch sein gesamtes Werk. (Mallorny, S. 14/15)

Aktualität

Plechanows philosophische Arbeiten prägten Generationen von Marxistinnen und Marxisten. Zu den ersten Arbeiten marxistischer Philosophen, die nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland erschienen, gehörten Plechanows „Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“ (1945) sowie „Über die materialistische Geschichtsauffassung“ (1946). Politisch – und damit gegen seine eigene philosophische Grundauffassung, dass der dialektische Materialismus eine Philosophie der Tat ist – verhielt er sich nach 1903 meist opportunistisch.

„Es stellt sich aber für uns die Frage der Aktualität Plechanows“, so Robert Steigerwald in einem Beitrag vor zehn Jahren anlässlich des 150. Geburtstags des Theoretikers des Marxismus. Trotz mancher theoretischer Unzulänglichkeiten gehören zu seinen Verdiensten sein „Kampf gegen Revisionismus und Opportunismus. Seine Verteidigung des Erbes. Seine großen Verdienste für die Ausarbeitung und Verbreitung der materialistischen Geschichts- und Gesellschaftstheorie, seine Klärung der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, der Freiheit und Notwendigkeit im Gesellschaftsprozess. Seine Kritik am gesellschaftstheoretischen Idealismus (Revisionismus). Desgleichen der Dialektik. Auch jene auf dem Gebiet der Kunsttheorie.“

Doch er war zunehmend nicht mehr in der Lage, neue Entwicklungen und Herausforderungen – auch für die revolutionäre Arbeiterbewegung in Russland – in der Epoche des Übergangs zum monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus) zu erfassen. Robert Steigerwald nannte ihn auch deshalb einen „orthodoxen“ Marxisten.

Wenn man also nach der Aktualität Plechanows fragt, muss man auch seine negativen Konsequenzen sehen: „Hierzu zähle ich vor allem falsch verstandene Orthodoxie mit ihren Folgen gerade auch für die Gegenwart. Die Nichtbeachtung der neuen Verhältnisse.“ (Steigerwald, S. 10) Damit verbunden war sein „Hang, aus Angst vor der Spaltung der Partei die in ihr sich entfaltenden Richtungen des Bolschewismus und Menschewismus, des revolutionären Marxismus und des Revisionismus zu versöhnen, welche Fehler miteinander verbunden waren.“ (Steigerwald, S. 9)

„Plechanows Tätigkeit begann während der relativ friedlichen Entwicklungsperiode des Kapitalismus, als die Frage nach der Vorbereitung des Proletariats auf die revolutionären Schlachten, nach den Wegen zur Eroberung der Diktatur des Proletariats noch nicht auf der Tagesordnung stand. Er erkannte die neuen Bedingungen des Klassenkampfes, die sich aus dem Imperialismus ergaben, nicht. Er war eine hervorragende Autorität, neben und nach Lenin der beste Theoretiker der II. Internationale, überschritt jedoch – im Unterschied zu Lenin – nie deren Grenzen.“ (Steigerwald, S. 10)

Wenn wir im kommenden Jahr an den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution in Russland erinnern, dann wird unter den Namen der Revolutionäre der Plechanows nicht auftauchen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass er als marxistischer Theoretiker und Propagandist einen wichtigen Anteil an der Verbreitung des Marxismus und der Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung in Russland hatte.

 

Unter Einbeziehung folgender Quellen:

Geschichte der materialistischen Dialektik. Von der Entstehung des Marxismus bis zur Leninschen Etappe, Berlin 1974

Filosofskij enciklopedicheskij slovar, Moskva 1983, S. 499–501

Erika Mieth, Artikel zu Plechanow im Philosophenlexikon, Berlin 1983, S. 755–759

Robert Steigerwald, Was bedeutet uns Plechanow heute? In: Geschichtskorrespondenz, Nr. 1/2007, S. 3–10

Heinz Mallorny, Georgi Walentinowitsch Plechanow (1856–1918) – ein bedeutender Theoretiker des Marxismus. In: Ebenda, S. 11–16

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Ein unermüdlicher Streiter für den Marxismus", UZ vom 23. Dezember 2016



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