Ein Wort zu viel

Gewaltiger Theaterdonner um eine „Jugendsünde“: Die Medien überschlagen sich in der Verurteilung eines 36 Jahre alten Flugblatts, das dem bayrischen Vizeministerpräsidenten Aiwanger zugeschrieben wurde. So weit tun sie recht damit, denn dieser Fetzen Papier ist nicht nur „menschenverachtend, geradezu eklig“ (Söder über das Flugblatt, nicht über den Verfasser und die Verteiler), es ist eine Ausdünstung der braunen Jauche, die in diesem Deutschland seit der Gründung der BRD nicht ausgetrocknet worden ist.

Das Flugblatt wirft ein Schlaglicht auf deutsche Verhältnisse der 80er Jahre, als im Zug von Kohls „geistig-moralischer Wende“ Geschichtsrevisionismus und Ausländerhetze Konjunktur hatten und solche dumpfen Töne zusammen mit Böhse-Onkelz-Platten zum Grundrauschen von „Junge-Union“-Partys gehörten. Es wird wohl der eine oder die andere Politiker oder Leitartiklerin, die jetzt das Machwerk als „antisemitisch“ verdammen, damals bei solchen Feten dabei gewesen sein. Denen fällt nicht auf, dass ihr Urteil an der Sache vorbeigeht. Antisemitisch ist der Text nur insoweit, als Auschwitz als Synonym für das größte Verbrechen des deutschen Faschismus gilt – 90 Prozent der dort fabrikmäßig Ermordeten waren nach Nazi-Kriterien jüdisch. Doch die Mordphantasien des Flugblatts gelten „Volksverrätern“, was jüdische Menschen, weil aus dem „Volk“ ausgegrenzt, für Faschisten nicht sein können. Sich von der Judenvernichtung zu distanzieren fällt heutigen Faschisten leicht, sie distanzieren sich damit nicht von der brutalen Zerschlagung der Arbeiterbewegung, dem Rassismus, der Verfolgung aller Minderheiten, dem Bruch aller Menschenrechte und was sonst den Faschismus ausmacht, der ein Verbrechen von Anfang an ist. So kann Aiwanger, dem aus seiner Schulzeit Hitlergruß und „Mein-Kampf“-Rezitationen nachgesagt werden, behaupten, er sei „seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Rechtsextremist, sondern ein Menschenfreund“. Und niemand spricht mehr von der Kontinuität seines Weltbildes, die sich in rassistischen und völkischen Tiraden äußert. Es ist, wie es Franz Josef Degenhardt seiner Kunstfigur, dem „alten Notar Bolamus“, in den Mund legte: „Nur Auschwitz, das war ein bisschen zu viel.“

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"Ein Wort zu viel", UZ vom 8. September 2023



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