„Faschismus-Diagnosen“ von Kurt Pätzold

Eine Denkhilfe

Von Jonny Michel

Kurt Pätzold

Faschismus-Diagnosen

Broschüre, verlag am park Berlin, 139 Seiten, 12,99 €

Wer sich mit der Entstehung des historischen Faschismus, dessen Entwicklung und den Umständen, die dazu führten, befasst, der kommt nicht am international renommierten Historiker Kurt Pätzold vorbei. In zahlreichen Publikationen stellte der Autor bereits seine außerordentliche Sachkenntnis zum Thema unter Beweis. Mit dem jüngst erschienenen Buch „Faschismus-Diagnosen“ setzt er diese erfolgreiche Arbeit fort. Ein Buch, das von der Vergangenheit handelt, aber angesichts Besorgnis erregender Entwicklungen in Deutschland aktueller denn je ist. Pätzold zeigt an Hand zahlreicher Dokumente, welche Versuche gerade in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts im linken Lager unternommen wurden, um „Faschismus“ zu definieren. Alle diese Versuche haben Mängel, sind unvollständig, war doch der Faschismus in Italien gerade erst etabliert worden, waren die düsteren Vorahnungen für Deutschland noch vage und das ganze Ausmaß des deutschen Faschismus nicht vorhersehbar. Texte von Trotzki bis Clara Zetkin, Max Horkheimer bis August Thalheimer und vielen anderen stehen sich gegenüber in all ihrer Unvollkommenheit. Sie zeigen aber auch durch ihre chronologische Reihenfolge den ständigen Kampf innerhalb der Linken, theoretische Grundlagen für ihren antifaschistischen Kampf zu schaffen. Irrtümer und Spaltungen blieben da nicht aus. Im Buch werden diese nicht retuschiert. Es bleibt dem Leser überlassen, seine Schlüsse zu ziehen, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als selbst zu denken. Genau darauf zielt der Historiker auch ab. Als Denkhilfe dürften dabei die vorangestellte Worte Kurt Pätzolds ausgezeichnete Dienste leisten.

Pätzold befasst sich u. a. mit der Unvollkommenheit der fälschlicherweise Georgi Dimitroff zugeschriebenen Faschismus-Definition: „Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Nach Kurt Pätzold sei eben der Faschismus nicht nur Sache einer übergeschnappten Elite gewesen. Auch wenn diese politische und wirtschaftliche Elite vom Faschismus profitierte. Um ein solches Weltverbrechen zu begehen, bedurfte es einer Massenbasis, die sich die Faschisten erfolgreich eroberten. Da ist seine Analyse des Begriffs „Nationalsozialismus“ nur folgerichtig. Der Historiker weist nach, dass wir heute mit dessen Verwendung nichts anderes tun als die Demagogie, die ihm innewohnt, zu manifestieren. Pätzold plädiert für die Verwendung des Begriffs „Faschismus“, da der Name „Nationalsozialismus“, den die Faschisten selbst kreierten, eine Revolution vorgaukeln sollte, die keine Revolution war. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung hatte auch nach der Machtübergabe an die Faschisten Bestand.

Wenn der Historiker an den Beginn seiner Einführung Max Horkheimer mit den Worten zitiert: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (1939), klingt das wie eine Mahnung an alle Linken. Kurt Pätzold hätte auch schreiben können: Antifaschismus ohne Antikapitalismus ist vergebliche Liebesmüh’.

Pätzolds neues Buch ist ein Muss für jeden Antifaschisten und all jene, die sich mit dem Entstehen faschistischer Strukturen auseinandersetzen. Ein sehr übersichtliches Quellen- und Personenverzeichnis erleichtert dazu weitere Recherchen.

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"Eine Denkhilfe", UZ vom 13. Mai 2016



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