Zur Frage von Sezessionen im Völkerrecht

Erlaubt oder verboten?

Vom 23. bis 27. September 2022 fanden in der Donezker und Lugansker Volksrepublik (DVR und LVR) sowie in den Oblasten Saporoschje und Cherson Referenden zur Frage des Beitritts zur Russischen Föderation statt. An der Abstimmung beteiligten sich insgesamt 4.905.908 Stimmberechtigte, wobei die Wahlbeteiligung in der Region Cherson am niedrigsten (78,86 Prozent) und in der DVR am höchsten (97,51 Prozent) war. Die übergroße Mehrheit der Teilnehmer am Referendum votierte für die endgültige Sezession (Abtrennung) des jeweiligen Gebietes von der Ukraine und den Eintritt in die Russische Föderation (DVR: 97,51, LVR: 98,42, Saporoschje: 93,11 und Cherson: 87,05 Prozent). Am vergangenen Freitag unterzeichneten in Moskau der russische Präsident Wladimir Putin und Staats- beziehungsweise Verwaltungschefs der vier Regionen die Beitrittsverträge. Am Montag stimmte die Duma einstimmig für die Aufnahme der DVR und der LVR als Teilrepubliken und von Saporoschje und Cherson als Oblaste (Verwaltungsbezirke) in die Russische Föderation, am Dienstag stimmte der Föderationsrat ebenfalls geschlossen für die Aufnahme.

Bevor überhaupt der erste Wahlzettel in einer Urne landete, hob bereits von Seiten der Bundesregierung und der ihr in Treue ergebenen Leitmedien das schrille Geheul von der „völkerrechtswidrigen Abstimmung“, dem „Schein-“ oder „Fake-Referendum“ an. Die Tageszeitung, hinter der gemäß Eigenwerbung „ein kluger Kopf“ stecken soll, versucht sich am 23. September unter der Überschrift „Propagandashow“ an einer Begründung: Russland berufe sich zwar auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, aber dennoch seien es „Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen“. Weniger vornehm und einem persönlichen intellektuellen Desaster sehr nahe, formulierte es Außenministerin Annalena Baerbock, am 21. September bei „Lanz“ zugeschaltet: „So ist es ja bei den Referenden: Sie werden erschossen, sie werden vergewaltigt, und dann sollen sie innerhalb von drei Tagen Kreuze machen, während neben ihnen ein Soldat mit Kalaschnikow steht.“ Den Russenhass, der hier aus jeder Pore trieft, beiseite lassend: Um was geht es völkerrechtlich?

Sezession ist die Abtrennung eines Teils des Territoriums eines Staates durch die dort ansässige Bevölkerung mit dem Ziel, entweder einen neuen unabhängigen Staat ins Leben zu rufen oder einem anderen bestehenden Staat beizutreten. Seitdem es Staaten gibt, gibt es Sezessionen, gescheiterte und gelungene. Gerade die Geschichte der letzten 75 Jahre ist voll davon: Geläufig sind Palästina, Kosovo, Krim, Nordzypern, Eritrea, Südsudan, aber auch die Bestrebungen der Kurden, Katalanen und Schotten. Allein in Europa zählt man in den letzten fünf Jahrzehnten über 30 solche Konflikte. Wer nun erwartet, die Charta der Vereinten Nationen böte hierfür Regelungen an, wird enttäuscht. Das hat mit der Konzeption des Völkerrechts selbst zu tun. Bereits der Begriff „Völkerrecht“ ist irreführend, im internationalen Recht sind allein die Rechte und Pflichten „der Staaten“ untereinander geregelt, ganz im Sinne gleichberechtigter Vertragspartner. Es gibt folglich weder einen Tatbestand im Völkerrecht, welcher die Sezession und ein vorbereitendes Referendum verbietet, noch gibt es eine Norm, aus der sich das Gegenteil, nämlich eine Erlaubnis zur Abspaltung direkt ableiten ließe. Das Völkerrecht geht primär immer vom Schutz der staatlichen Integrität aus. Der russische Standpunkt, Sezession und Volksabstimmung seien völkerrechtskonform, bezieht sich auf einen Passus in Artikel 1 Nr. 2 der UN-Charta. Dort definiert die UN eines ihrer Ziele, nämlich „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln“. In der Vergangenheit leitete daraus die Völkerrechtswissenschaft das Recht auf Sezession zur Entkolonialisierung ab, seit der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) 2010 zur Unabhängigkeit des Kosovo steht fest, dass einseitige Unabhängigkeitserklärungen nicht gegen das Völkerrecht verstoßen. Konsequent heißt es im Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 15. März 2022, die Unabhängigkeit der DVR und der LVR sei „völkerrechtlich wohl nicht zu beanstanden“. Und für den Leser der „FAZ“ sei darüber hinaus angeführt, dass die meisten Sezessionen, auch die Palästinas oder des Kosovo, im Stadium bewaffneter oder kriegerischer Auseinandersetzungen vonstatten gingen. Das war auch dem IGH bei seiner Kosovo- Entscheidung bewusst. Dass die ukrainische Verfassung, wie wohl alle Verfassungen der Welt, Sezessionen nicht erlauben, ist innerstaatliches Recht und hat mit dem Völkerrecht nichts zu tun.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Erlaubt oder verboten?", UZ vom 7. Oktober 2022



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