Zum 1. Mai

Es ist ein Klassenkampf

Von Dietmar Dath

Dietmar Dath konnte seine geplante Rede zum „Roten 1. Mai“ in Siegen wegen Krankheit nicht persönlich halten.

Wir dokumentieren einen Auszug aus dem verlesenen Manuskript.

Vor mehr als hundert Jahren, im September 1904, vor den beiden Weltkriegen, vor den Nazis, vor der ganzen Katastrophe Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert, hat der Sozialist Karl Liebknecht die Regierten und Ausgebeuteten und Beherrschten und Besitzlosen gewarnt. Er wusste, dass die Leute, zu denen er da redete, nicht so naiv waren wie siebzig Jahre später mein Vater, denn das waren Menschen, die in der Gewerkschaft, in der Arbeiterbewegung, in der Arbeiterpartei aktiv waren. Aber er sagte ihnen, dass sie, wenn schon nicht naiv, so doch zu optimistisch waren, wenn sie glaubten, dass der Feind im Klassenkampf ihnen und ihrer besseren Idee von Gesellschaft einfach weichen würde. Er sagte: „Man sagt, das Reichstagswahlrecht ist uns geblieben. Aber wenn uns auch das genommen wird?“

Das Problem haben wir heute nicht, werden mir vielleicht einige antworten, wir können wählen, wir haben doch das Wahlrecht. Aber ich erinnere nochmal daran: Wenn ich nur Parteien wählen kann, die garantiert für die nächste Zerstörung sozialer Sicherheit stimmen werden, für den nächsten Krieg, für die nächste Verschlimmerung einer bereits üblen Lage, habe ich dann ein Wahlrecht? Liebknecht fuhr damals fort nach der Frage, was ist ohne Wahlrecht los?:

„Dann sollen wir in die Kommunen gehen. Aber wenn uns auch da der Zugang genommen wird? Dann bleiben die Gewerkschaften. Aber wenn uns das Koalitionsrecht genommen wird? Was tun wir dann? Es ist nicht wahr, dass wir unter allen Umständen eine Kraftprobe vermeiden können. Es kann der Fall eintreten, wo wir unsre Macht, von der wir jetzt einen mehr formalen Gebrauch machen, realisieren und manifestieren müssen. Das geschieht in der drastischsten Form durch die Entfaltung eines Massenstreiks.“

Liebknecht konnte so reden mit seiner damaligen Partei, mit der SPD. Wenn man aber heute sagt, das ist eh vorbei, wenn man sagt, Massenstreiks sind utopisch und politische Streiks sowieso nicht drin, was sagt man dann darüber, wie sich diejenigen, die den nächsten Krieg bezahlen werden wie jeden vorher, gegen diesen Krieg und jede anderes Schweinerei, die kommen mag, noch wehren können? Wenn Gegenwehr utopisch ist, dann, weil die Gewerkschaften derzeit so wenig in der Lage dazu sind wie die meisten Parteien, so etwas zu organisieren. Aber wenn man das weiß, heißt das nicht, dass man weiß, dass es fünf vor zwölf ist? Liebknecht sagte damals, dass man, wenn man sagt, es sei fünf vor zwölf, oft die Antwort bekommt, man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Er antwortete völlig richtig: „Aber der Teufel ist doch leibhaftig da; es wäre Vogel-Strauß-Politik, wenn wir das leugnen wollten. Und, Genossen, wie sollen wir die ganze Welt erobern, wenn wir nicht einmal imstande sind, unsre wenigen Grundrechte, die wir schon haben, zu verteidigen, unsre jetzigen Positionen zu halten?! Dazu ist es notwendig, den Massenstreik zu diskutieren. Wir wollen Ihnen gar nicht empfehlen, ihn ohne weiteres als neues Kampfmittel zu akzeptieren. Wir wünschen vorläufig nur eine Diskussion und damit eine gewisse Sympathiekundgebung für den Grundgedanken.“

Die Leute müssen lernen, sich Dinge vorzunehmen und vorzustellen, die noch nicht da sind. Die NATO macht das. Sie nimmt sich Dinge vor und übt sie, Dinge, die schrecklich wären. Sie hält Manöver ab, sie schickt Schiffe ins Schwarze Meer, sie sagt: Wir wollen gar keinen Krieg, aber nur, wenn wir mit einem drohen können, werden wir ihn vermeiden.

Na gut, aber wenn die Regierenden und die Herrschenden und die Besitzenden und die Ausbeuter dauernd drohen können, etwa mit neuen Kriegen und mit neuen Unterschieden bei der Lebenserwartung je nach Klasse, sollten ihnen dann die Regierten und die Beherrschten und die Besitzlosen und die Ausgebeuteten nicht zurückdrohen? Wie gesagt, zu wenige haben damals auf Liebknecht gehört.

Hundert Jahre Horror waren das Ergebnis. Die Welt hat keine hundert Jahre mehr, wenn ihre Zerstörung durch die Mächtigen so weitergeht. Die Superheldinnen und Superhelden im Kino werden uns nicht retten. Sie können nicht mal den Leuten das Lebensende erleichtern, die sie erfunden haben. Noch steht auf dem Papier, noch steht in Gesetzen, dass wir Rechte haben.

Wenn wir sie nicht nutzen, werden wir mehr verlieren als diese Rechte. Karl Liebknecht hatte und hat Recht, damals wie heute. Wir müssen zeigen, dass wir das verstanden haben.

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"Es ist ein Klassenkampf", UZ vom 3. Mai 2019



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