„Flüchtlingslawine“ und „biopolitischer Grenzkampf“

Von Guntram Hasselkamp

Der Westdeutsche Rundfunk hat sich um die Volksaufklärung verdient gemacht. Noch poliert die Mutter Theresa des Kanzleramtes fleißig an ihrem medial errichteten Heiligenschein „Wir schaffen das!“ – nicht zuletzt mit Hilfe von Grünen und Linken. Doch längst stellt sich die Frage: Was schaffen „wir“ da eigentlich? Während die Kabinettsmitglieder Seehofer, Schäuble und de Maiziére noch darüber wetteifern, wer sich die größten Lager und die höchsten Zäune ausdenken kann, sind andere längst weiter. Die eigentliche Fragestellung lautet doch: Wie ist dieser, für den „aussterbenden Volkskörper“, so segensreiche Zustrom menschlicher Arbeitskraft (sozusagen ein Gegengeschenk für die selbstlosen US-amerikanischen Demokratisierungs- und Nationbuilding-Bemühungen und, nicht zu vergessen, die deutschen Mädchenschulen und Brunnenprojekte), also, wie ist dieses Gottesgeschenk unter dem standortrelevanten Gesichtspunkt Profitmaximierung und BIP-Steigerung, also zur optimalen Vermehrung eines renditestarken Humankapitals am besten zu kanalisieren und zu selektieren?

Dies im Hinterkopf hatte der WDR letzte Woche einen der großen Vordenker in diesen Schicksalsfragen der Nation, den Bremer Soziologen Gunnar Heinsohn, geladen. Ein freundliches Interview, wie es sich für große Geister gehört. Mit Werken wie, „Menschenproduktion. Allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit“, hatte Heinsohn schon 1979 seine völkische, oder politisch korrekt, standortpolitische Basis-Qualifikation unter Beweis gestellt. Die Grundthese lautet in etwa: Die Reproduktionsrate ist eine Funktion politischen Wollens. Das war sie schon im Mittelalter. Die „aktive“ Bevölkerungspolitik der deutschen Faschisten ist also keineswegs ein Kulturbruch, sondern lediglich eine radikalisierte Variante des jahrhundertewährenden Kampfes gegen „Schrumpfvergreisung“ und „Überalterung des deutschen Volkskörpers“. Heinsohn redet daher dankenswerterweise, wie auch sein großer Vordenker Friedrich Burgdörfer, offen von Bevölkerungstheorie und –politik und nicht wie die verdrucksten heutigen Zunftvertreter von Demographie.

Klar, so mancher Sarrazin, der heute mit der „Bevölkerungsurne“ gegen die gesetzliche Rentenversicherung zu Felde zieht, möchte ungern seine Restseriösität als Kollateralschaden des gescheiterten „biopolitischen Grenzkampfes“ und der „Gegenauslese“ des Tausendjährigen Reiches einbüßen. Aber dieser Sorge zumindest scheint Herr Heinsohn gänzlich ledig. Und richtig, mit der „Füchtlingskrise“ ist der „biopolitische Grenzkampf“ ja geradezu zur akuten Überlebensfrage in Schrumpfgermanien geworden.

Heinsohn vertrödelt nicht unsere Zeit mit christlich-sozialer Semantik, sondern stellt die einzig relevante Frage: Was wollen „wir“ mit dieser „Flüchtlings­lawine“ denn Sinnvolles anfangen? Wenn dumme Flüchtlingskinder, die hier „die beste und höchstbezahlte Schul- und Kindergartenbildung Europas bekommen haben, zur Hälfte mangelhaft oder noch schlechter abschneiden“, sei Bildung ja offensichtlich eine Fehlinvestition. Da ist die soziale Hängematte, aufgespannt vom deutschen Leistungsträger, ja ohnehin vorprogrammiert. So produziert man im „biopolitischen Grenzkampf“ kein Humankapital, sondern allenfalls „unnütze Esser“.

Man kann also seine knappen Ressourcen in humanitätsduseligem Gutmenschentum sinnlos verschleudern, oder es wie jene „10 Länder“ machen, die Heinsohn klar als „Kompetenzfestungen“ ausgemacht hat. Etwa Australien, Kanada, Neuseeland, Japan, Südkorea, Singapur oder die Schweiz. Diese „Kompetenzfestungen“ würden bereits vor der Grenze ermitteln, ob die Flüchtlinge „auch eines Tages schreiben und rechnen können“. Und hier seien die Grenzen dicht. Festungen eben. Australien habe seine Grenzen „innerhalb eines Jahres so dicht gemacht, dass von 2 000 Schleuserbooten nur noch eins übrig blieb“, schwärmt Heinsohn. (Und das steht vermutlich im Museum.)

Mit Heinsohn wissen wir: „Wir“ befinden uns im globalen Endkampf um die „Eliten“. Wer zur „Elite“ gehört, ist Heinsohn zufolge „Nettozahler“, vollerwerbstätig und unter 44 Jahre. Wieso 44 Jahre ist nicht so klar. Klar dagegen: In Schrumpfgermanien sind das gerade 13 Millionen. Nichts was uns vor dem Aussterben bewahrt. Und um diese „Eliten“ werde auch noch aus den „Kompetenzfestungen ganz eisern geworben“. „Allein Kanada, Neuseeland und Australien wollen 30 Mio. Leute in den nächsten 35 Jahren aufnehmen.“ Und zwar „mit dem Versprechen, dass sie dort nicht überfordert werden. Die zahlen ja bei uns schon 50 Prozent Abgaben auf ihre Einkommen. In Australien weniger als 30.“

Das Überlebensproblem heißt also schlicht: Kompetenz ist knapp. Dumme gibt es überall. Wer die „Elite“ nicht bekommt, „der kriegt sie nie und wer die verliert, der bekommt sie nicht zurück.“ Aber glücklicherweise gibt es ja die Eurokrise: „Nun hoffen wir, für Deutschland würde es schon reichen“. Die jungen Leute zwischen Estland und Griechenland „sitzen das Scheitern ihrer Gesellschaften ja nicht aus, sondern wandern vorher und sehr viele zu uns.“ Aber ob es reicht, ihnen zuzurufen: „Versorge unsere Rentner, versorge unsere Hilflosen und ende selber arm im Alter“, das sei eine andere Frage.

Herr Heinsohn mag sich für manchen etwas ungewohnt anhören. Das ist Übungssache. Es sind die alten, bevölkerungstheoretischen Konzepte, die zum Imperialismus gehören wie die Schmeissfliegen zum Kuhfladen, nur etwas pointiert formuliert. Und es ist schon bemerkenswert mit welcher Geschwindigkeit die Euro- und Flüchtlingskrise ihre Renaissance befördert. Im Handumdrehen wird aus dem dem Exoten Heinsohn ein akzeptierter Diskutant des herrschenden Diskurses. Er sagt, was andere nur denken. Noch. Natürlich werden uns, wie immer, die Profitinteressen der Großkonzerne an billiger Arbeitskraft als nationales, gar humanes Anliegen, die Kannibalisierung des Bildungssystems durch den billigeren Brain-Drain als Zukunftsprojekt, und das Ausbomben der Sozialsysteme als Eliteförderung verkauft. Aber genau das ist es schließlich, worum es beim „Wir schaffen das!“ der Mutter Teresa des Kanzleramtes in Wirklichkeit geht

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"„Flüchtlingslawine“ und „biopolitischer Grenzkampf“", UZ vom 4. Dezember 2015



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