Was wir von der Friedensbewegung der 80er Jahre lernen sollten

Keine Berührungsängste für den Frieden

Chris Hüppmeier

Mit der Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz (SPD), neue atomare US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, werden auch Erinnerungen an eine Zeit wach, als sich eine breite Bewegung für Frieden und Abrüstung auf den Weg machte. Einer, der damals als junges Mitglied im SDAJ-Bundesvorstand mit dabei war, ist der heute 74-jährige Michael Gerber. Als Friedenskämpfer war Michael Gerber Betriebsrat bei Siemens in Kamp-Lintfort, IG-Metall-Vertrauensmann und später für die DKP im Bottroper Stadtrat. Im UZ-Interview berichtet er über die Erfolge der Friedensbewegung damals und darüber, was wir daraus mitnehmen können.

UZ: Michael, wenn du an die 80er Jahre zurückdenkst, wie würdest du die politische und soziale Situation erklären, die die Friedensbewegung so stark hat werden lassen?

Michael Gerber: Der NATO-Beschluss im Dezember 1979 zur Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen in Westdeutschland hatte große Ängste in der Bevölkerung ausgelöst. Es bestand die reale Gefahr, dass Deutschland zu einem atomaren Schlachtfeld wird. Anfang der 80er Jahre entstanden in etlichen Städten Friedensinitiativen, die die Bevölkerung mit vielfältigen Aktionen gegen die Raketenstationierung mobilisierten. Auch die Ostermärsche der 60er Jahre wurden wiederbelebt. Der Krefelder Appell von 1980 gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa wurde in den folgenden Jahren von über fünf Millionen Menschen unterschrieben. Im Sommer 1981 bildete sich der Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung in Bonn, dem 26 Organisationen angehörten.

Ich vertrat in diesem Friedensbündnis die SDAJ. Der Koordinierungsausschuss mobilisierte zu der bis dahin größten Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten, an der 300.000 Menschen teilnahmen! Im folgenden Jahr, am 10. Juni 1982, waren es schon 500.000 Menschen auf den Bonner Rheinwiesen. Ein Jahr darauf waren es bundesweit 1,5 Millionen Menschen: Am 22. Oktober 1983 demonstrierten 500.000 Menschen in Bonn. 400.000 Menschen bildeten parallel dazu eine Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm und nochmal 400.000 Menschen demonstrierten in Hamburg. Diese „Volksversammlung für den Frieden“ bildete den Höhepunkt der Aktivitäten der Friedensbewegung in den 80er Jahren.

UZ: Wie konnte eine solche Massenmobilisierung damals gelingen? Welche Rolle spielte die politische Breite im Koordinierungsausschuss?

350401 Interview Portrait - Keine Berührungsängste für den Frieden - Friedensbewegung, Michael Gerber, Raketenstationierung - Politik
Michael Gerber

Michael Gerber: In dem Bündnis haben sehr unterschiedliche Gruppen zusammengearbeitet. Was uns verband, war die Absicht, eine Stationierung von atomaren US-Raketen in Deutschland zu verhindern. In dem Bündnis waren so unterschiedliche Organisationen wie die beiden christlichen Verbände „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ und die „Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden“, der Verband Deutscher Studentenschaften, die DGB-Jugend war als Beobachter dabei, der BUND, das Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KOFAZ), die Grünen, die DFG-VK, die VVN, der Bund sozialdemokratischer Frauen. Und natürlich die Jugendverbände wie die SDAJ, die Jusos, die Falken und die Bundesschülervertretung. Diesem breiten Bündnis ist es gelungen, die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Stationierung der Mittelstrecken-Raketen zu mobilisieren!

UZ: Wir werden heute vom Imperialismus der NATO in eine neue Blockkonfrontation gegen Russland und China getrieben. Dabei wird beinahe im Wochenrhythmus auf Eskalation gesetzt …

Michael Gerber: Der Unterschied zu den 80er Jahren ist, dass es den Herrschenden und den Medien anscheinend gelungen ist, Illusionen über den Imperialismus zu erzeugen und Russland und China als das Drohgebilde am Horizont zu malen. Gleichzeitig erhöht sich die Kriegsgefahr sicherlich auch dadurch, dass die G7-Staaten und die NATO auf einem absteigenden Ast sind, nicht was ihre militärischen Fähigkeiten, aber was ihre Wirtschaftskraft und ihre politischen Möglichkeiten angeht. Das wissen wir auch aus der Geschichte: Absteigende Mächte treten nicht freiwillig von der Bühne ab, sondern versuchen durch militärische Gewalt diesen Prozess aufzuhalten. Insofern ist Gefahr einer militärischen oder nuklearen Konfrontation im Weltmaßstab viel größer als noch in den 80er Jahren.

UZ: Inwiefern können wir heute von den Erfahrungen der Friedensbewegung der 80er Jahre lernen?

Michael Gerber: Je mehr der Bevölkerung die Gefahren für unser Land bewusst werden, die mit der neuen Stationierung von US-Mittelstreckenraketen, die auch atomar bestückt werden können, sowie den neuen US-Hyperschallraketen verbunden sind, wird sich auch der Widerstand gegen die Stationierung entwickeln. Heutzutage leben wir nicht in Zeiten des Kalten Krieges, sondern in der zugespitzten Situation eines NATO-Krieges gegen Russland, der auch auf russischem Boden mit deutschen Waffen stattfindet. Deutschland ist Kriegspartei und damit auch potenzielles Angriffsziel! Die Zustimmung von SPD-Kanzler Scholz zur Stationierung von US-Raketen folgt dem Beispiel von SPD-Kanzler Schmidt 1979 zur Unterstützung des damaligen NATO-Beschlusses. Jeder Widerspruch aus den Reihen der Sozialdemokraten gegen die Erhöhung der Kriegsgefahr muss auch heute wie vor 40 Jahren genutzt werden!

Das gleiche gilt für die Gewerkschaften. Der DGB hat die Friedensdemonstrationen in den 80er Jahren nicht unterstützt. Das IG-Metall-Vorstandsmitglied Georg Benz wurde für seine Rede auf der Friedenskundgebung 1981 in Bonn scharf vom damaligen IG-Metall-Vorsitzenden Loderer kritisiert. Auch heute gibt es die Möglichkeit, die Gewerkschaftsmitglieder und die Organisationen aus der Einbindung in die Aufrüstungslogik herauszulösen. Dazu kann der Aufruf „Gewerkschaften gegen Aufrüstung und Krieg“ genutzt werden. In mühevoller Kleinarbeit von allen Menschen, die sich gegen eine Raketenrüstung und gegen die Kriegsgefahr wenden, gilt es die bestehenden Friedensinitiativen zu verbreitern und – wo keine Initiativen bestehen – neue zu gründen. Wir müssen eine Meinungsführerschaft gegen die Herrschenden für Frieden, Verständigung und Abrüstung durchzusetzen. Die Unterstützung und Teilnahme an der Demonstration „Nein zu Krieg und Hochrüstung, ja zu Frieden und internationaler Solidarität“ am 3. Oktober in Berlin ist dafür eine sehr gute Möglichkeit.

Was die Friedensbewegung lernen muss, ist, alte Gleise zu verlassen und neue Chancen zu erkennen. Es muss darum gehen, die Menschen mit ihren bestehenden Ängsten auf die Straße zu bringen. Dafür müssen wir die Möglichkeiten schaffen! In den 80er Jahren haben Organisationen im Koordinierungsausschuss zusammengearbeitet, die in anderen Feldern gar keine Berührungspunkte hatten, aber an diesem einen Punkt, der Verhinderung der Raketenstationierung, eben keine Berührungsängste zeigten. Ich glaube, da ist es auch wichtig den Blick zu öffnen.

UZ: An wen denkst du da im Besonderen?

Michael Gerber: Ich glaube, wir müssen viel stärker Jugendliche ansprechen. Es geht letztendlich um ihre Zukunft und die darf nicht darin bestehen, dass man die Bundeswehr als einen attraktiven potenziellen Arbeitgeber ansieht. Die Bundeswehr ist eine Kriegsarmee, die bereits heute die Zukunft junger Menschen zerstört. Die militaristische Tradition, die in der Bundeswehr neuerdings wieder gepflegt wird, hat uns in zwei Weltkriege geführt. Einen dritten werden wir nicht überleben. Deshalb gilt es die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen bei uns zu verhindern!

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"Keine Berührungsängste für den Frieden", UZ vom 30. August 2024



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