Kinderarbeit in den USA nimmt zu, Legalisierungsbestrebungen ebenso

Kinder an die Arbeit

Back to the Roots. Der Leitstern des Wertewestens, der US-Kapitalismus, entdeckt erneut die Vorzüge der Kinderarbeit. Nach Zahlen des US Department of Labor (DoL) haben die Verstöße gegen die Kinderschutzbestimmungen deutlich zugenommen. Um nahezu das Vierfache, von 1.012 im Jahr 2015 auf 3.876 betroffene Minderjährigen 2022. Ein beträchtlicher Anteil von ihnen in gefährlichen Berufen. Über den Umfang der diesen Zahlen zugrundeliegenden Recherche, ihre Validität und die naturgemäß erhebliche Dunkelziffer ist aus naheliegenden Gründen wenig zu erfahren.

Das DoL ist, mehr noch als andere Behörden, vom neoliberalen Ausverkauf, von der gewollten personellen und materiellen Unterausstattung gebeutelt. Man darf vermuten, dass es sich bei den DoL-Daten nur um eine sehr kleine Spitze eines sehr großen Eisberges handelt.

Das Problem wird durch die hohen Immigrationszahlen der USA nicht gerade kleiner. Momentan reisen pro Monat etwa 200.000 Menschen, darunter viele alleinstehende Kinder und Jugendliche, unregistriert und ohne gültige Arbeitspapiere in die USA ein. Es befinden sich derzeit über elf Millionen Menschen ohne Papiere in den USA. Vorwiegend aus dem von Washington in einen verarmten und zerstörten „Hinterhof“ verwandelten Lateinamerika. Diese Menschen stehen in der Regel ohne Einnahmen da und brauchen dringend irgendeine Arbeit. Sie können aber legal keine bekommen. Natürlich muss es irgendetwas „unter der Hand“ sein. Und ebenso natürlich zu niedrigeren Löhnen. Die Schwächsten in dieser „Nahrungskette“ sind Kinder und Jugendliche. Der flagrante Rassismus, vor allem in den Südstaaten, tut das Übrige zur Senkung des Lohnniveaus. Angesichts dieser gewaltigen gesellschaftlichen und sozialökonomischen Verwerfungen liegt die Fragwürdigkeit der DoL-Zahlen auf der Hand. Selbst in der US-Mittelschicht gehört es heute ja beinahe zum Standard, eine Putz- oder Kinderfrau, einen Gärtner oder sonstige Arbeitskraft aus dem Süden illegal zu beschäftigen. Minderjährige bilden da naturgemäß keine Ausnahme.

Aber die Lohndrückerei beschränkt sich keineswegs auf den privaten Sektor des Kleinbürgertums und des Mittelstandes. Auch die sich so gern als Wohltäter der Menschheit gerierenden internationalen Konzerne wie McDonalds, Subway, Burger King oder Pop­eyes Restaurants wurden wegen der illegalen Beschäftigung Minderjähriger zu Geldstrafen verurteilt. Fast Food Stores, Fleischfabriken, Verpackungsfirmen, aber auch Metallbetriebe und Autobauer wie Hyundai und Kia wurden straffällig. Selbst 12-Jährige wurden auf dem Feld bei der Tomatenernte und bei langen Arbeitsschichten angetroffen. Die illegale Kinderarbeit ging zum Teil bis spät in die Nachtstunden und sie hatte zum Teil auch mit der Handhabung gefährlicher Maschinen und Anlagen, selbst bei gefährlichen Abbruchunternehmungen, zu tun.

211203 - Kinder an die Arbeit - Immigration, Imperialismus, Kinderschutz, Lateinamerika, Neoliberalismus, USA - Hintergrund
Mädchen in einer Spinnerei (Foto: Public Domain)

Der Vorteil für die Unternehmen liegt auf der Hand. Die Beschäftigung Minderjähriger ist strukturell billiger und sie übt einen Entwertungsdruck auf die Ware Arbeitskraft im Ganzen aus. Minderjährige, dazu noch illegal beschäftigte, sind kaum organisiert, weniger qualifiziert, aufgrund ihrer ökonomischen Zwangslage eher devot und wenig selbstbewusst, viele sind dagegen hochmotiviert und leistungsbereit. In Konkurrenz mit Erwachsenen sind sie das Beispiel, auf das verwiesen werden kann, wenn erklärt werden soll, dass es mit weniger Lohn doch auch geht.

Nun könnte man die starke Ausbreitung illegaler Beschäftigung zum Anlass nehmen, den staatlichen Druck auf diese kriminellen Machenschaften zu erhöhen und die illegale Arbeit von Kindern und Jugendlichen so gut es gelingt austrocknen. Aber das ist offensichtlich nicht der Ansatz der US-Politik. Man kann das Problem ja viel eleganter lösen, indem man es einfach wegdefiniert, sprich, ein illegales in ein legales Arbeitsverhältnis verwandelt. Also haben die Bestrebungen, Kinderarbeit wieder zu legalisieren, ebenfalls zugenommen. In mehreren Bundesstaaten ist oder wird Kinderarbeit wieder zulässig.

So zum Beispiel in Iowa, Maine, Michigan, Minnesota, Arkansas, Ohio, Wisconsin. In 10 Bundesstaaten wurden in den letzten zwei Jahren entsprechende Gesetzesinitiativen gestartet. Klar ist, internationale Großkonzerne wie McDonalds lieben es nicht gerade, womöglich als Ausbeuter von Kindern in den Medien berühmt zu werden. Andererseits lockt der Profit. Entsprechend mobilisiert die Lobby der Restaurant Association. Insbesondere die Firmen Burger King, Taco Bell, Pepsi, Sysco, Hy-Vee. Aber auch John Deere und Google sind mit im „Kinderarbeitsboot“. Und natürlich dürfen auch die Koch-Brüder nicht fehlen. Dass Iowas Gouverneurin Kim Reynolds und Arkansas‘ Regierungschefin Sarah Sanders ebenfalls überzeugte Fans der Kinderarbeit sind, bedarf eigentlich kaum der Erwähnung. Die neuen bundesstaatlichen Arbeitsregelungen unterscheiden sich zwar im Detail, aber es sind sehr weitgehende Bestimmungen enthalten, die lange Schichten, hohe Wochenarbeitszeiten, das nächtliche Arbeiten in Bars und Restaurants und in gefährlichen Betrieben erlauben.

Neben der Legalisierung dieser Arbeit muss ein neues Narrativ gefunden werden. Das Ganze muss irgendwie annehmbar, ja möglichst als ein Fortschritt erscheinen. Alles muss sauber und ordentlich aussehen. Dafür muss der Orwellsche Neusprech wieder einmal genutzt werden, wie schon bei den Kriegen des US-Imperiums und des Wertewestens üblich. So werden die Menschen ja auch zu ihrem Glück und Vorteil, für Freedom & Democracy und die segensreiche regelbasierte Ordnung umgebracht. Und in der Schönen Neuen Welt der Kinderarbeit sind natürlich auch alle glücklich und zufrieden. Kinderarbeit schadet den Kindern nicht, sondern dient und hilft ihnen. Kinder bekommen so die Chance, die Arbeitswelt, die Arbeitsethik kennenzulernen, sie können Geld verdienen, mit dem sie sich ernähren und kleiden können und brauchen nicht weiter zu hungern. Wie sie nebenbei zur Schule gehen sollen, wann sie ihre Freunde treffen sollen, wie sie lesen, sich bilden, Kultur entwickeln sollen, ist weniger das Problem der neuen „Kinderfreunde“.

211202 - Kinder an die Arbeit - Immigration, Imperialismus, Kinderschutz, Lateinamerika, Neoliberalismus, USA - Hintergrund
Von 3 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags Austern öffnen – miese Arbeitszeiten sind auch für Kinder keine Seltenheit. (Foto: Public Domain)

1938 beschloss der US-Kongress den ‚Fair Labor Standards Act‘ mit dem nicht nur ein Mindestlohn und eine erhöhte Überstundenvergütung festgelegt, sondern auch ein Verbot der Kinderarbeit zum Gesetz erhoben wurde. Bis weit ins 20. Jahrhundert hatten die kapitalistischen Staaten auf billige Kinderarbeit zurückgegriffen, um maximale Profitraten zu generieren und mit hohen Akkumulationsraten im imperialistischen Kampf um die Weltherrschaft die Nase vorn haben zu können. Der US-Kapitalismus hatte so sein „Gilded Age“, sein vergoldetes Zeitalter (etwa 1875 bis 1900) feiern können.

Doch nun war die Zeit des New Deal angebrochen, eines neuen Klassenkompromisses, den die US-amerikanische Wirtschafts- und Finanzelite mit den Arbeitern und ihren Organisationen einzugehen bereit war. Der Kapitalismus hatte gerade die bis dahin schwerste Krise seiner Geschichte erlebt. Im Gegensatz dazu feierte die Sowjetunion den stürmischen Aufschwung ihrer ersten Fünfjahrespläne. Mit dem Beispiel des erfolgreichen Sozialismus vor Augen wuchsen auch in den USA die Organisationen der Arbeiterbewegung zu einer starken politischen Kraft. Selbst der so arrogant-skrupellose US-Kapitalismus konnte daran nicht vorbei und war zu Kompromissen gezwungen.

Heute ist die Große Krise zurück. Der Westen rutscht ökonomisch, militärisch, ideologisch und propagandistisch immer stärker in den Kriegsmodus. Das US-Finanzkapital fürchtet um seine globalen strategischen Interessen, um seinen Status als global dominierende Supermacht, und wehrt sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Deindustrialisierung, Rezession, Inflation und Überschuldung prägen in den entwickelten Industriestaaten das Bild. Mit den Corona-Lockdowns ist das Zerreißen der Produktions-, Versorgungs- und Transitnetze hinzugekommen. Der Westen erlebt einen völlig ungewohnten Mangel an Produkten ebenso wie an qualifizierten Arbeitskräften. Die neoliberale Selbstverelendungsstrategie hat den Arbeitsmarkt, das Bildungs- und Ausbildungssystem längst erreicht und zu einem Mangel und einer Dequalifizierung der Ware Arbeitskraft geführt.

Anders als in den 1930er Jahren ist der US-Imperialismus nun zu keinerlei Kompromissen mehr bereit. Das Imperium steht nicht mehr vor dem Aufstieg, sondern vor dem Abstieg. Seine dünne Zivilisationsfassade ist gefallen und sein wahrer Raubtiercharakter kommt zum Vorschein. Nun, im Kriegsmodus, sollen selbst Kinder und Jugendliche als billige Lückenfüller und Profitlieferanten herhalten.

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"Kinder an die Arbeit", UZ vom 2. Juni 2023



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