Peter Gingold zum 100. Geburtstag

Kommunist und Widerstandskämpfer

Von Dr. Ulrich Schneider

Literaturhinweis

Peter Gingold

Paris – Boulevard St. Martin No. 11

Ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik. Köln 2011

 


Matinee

zum 100. Geburtstag

von Peter Gingold

13. März 2016 um 11.00 Uhr

Frankfurt/M. im Haus Gallus,

Frankenallee 111

Es wirken mit: Siegmund Gingold und Anne Jolett (Paris), Esther Bejarano (Hamburg), Dr. Ulrich Schneider, Generalsekretär der FIR, Juri Czyborra (Enkel von Ettie und Peter Gingold), Philipp Teubner und die Musikgruppe „Die Grenzgänger“ (Bremen)

Es sind nicht nur die Älteren, die sich noch an Peter Gingold erinnern. Es sind auch viel Jüngere, die durch diesen engagierten Kommunisten und Antifaschisten in ihrem politischen Weg beeinflusst und geprägt wurden. War er doch in vielen Städten und Orten auf den Straßen und Plätzen gegen Neofaschismus und Krieg präsent, aber auch in ungezählten Veranstaltungen, in Gesprächsrunden, in Schulklassen und Jugendgruppen, in denen er von seinen historischen Erfahrungen berichtete – von dem Verfolgungsschicksal seiner Familie, aber auch seiner Bereitschaft, sich dem antifaschistischen Widerstand anzuschließen, und alles dafür zu tun, dass nie wieder Faschismus und Krieg die Menschheit bedrohen.

Dieser Weg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Geboren am 8. März 1916 in einer jüdischen Familie in Aschaffenburg, wuchs Peter Gingold in Frankfurt/Main auf und wurde dort Mitglied der Gewerkschaftsjugend und des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD). In Frankfurt erlebte er die ersten handgreiflichen Auseinandersetzungen mit dem aufkommenden Faschismus. 1933 floh die Familie nach Frankreich. Als Juden fühlte man sich – vollkommen zu Recht – in Deutschland nicht mehr sicher. Kurzzeitig 1933 verhaftet, folgte Peter seiner Familie nach Paris, wo er zu den Mitbegründern der „Freien Deutschen Jugend“ gehörte. In dieser Stadt wurde er auch 1937 Mitglied der Kommunistischen Partei, der er zeitlebens verbunden blieb.

Obwohl Antifaschist, wurde er 1939 zu Beginn des Krieges als „feindlicher Ausländer“ interniert. Nach seiner Entlassung wurde er wieder aktiv und schloss sich – nach dem Überfall der deutschen Truppen auf Frankreich – der französischen Résistance an. In diesem Kampf riskierte er Freiheit und sein Leben. Nach einer Razzia verhaftet, gelang ihm am 23. April 1943 eine spektakuläre Flucht aus den Fängen der Gestapo. Sein Bruder und seine Schwester hatten weniger Glück. Sie wurden bei einer anderen Razzia verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sich alle Spuren verlieren.

Wieder in den Reihen der Résistance, kämpfte Peter Gingold für die Befreiung von Paris und 1945 sogar noch in den Reihen der italienischen Resistenza. Den 8. Mai 1945 erlebte er in Turin. Diesen Tag, die Befreiung von Faschismus und Krieg, bezeichnete er rückblickend als „Morgenrot der Menschheit“.

1945 kehrte er nach Frankfurt/M. zurück. Auch holte er seine Frau Ettie und die erste Tochter Alice aus Paris nach Frankfurt, wo er als Mitglied der hessischen KPD am antifaschistisch-demokratischen Neuanfang mittun wollte. Zudem war er 1946 Mitbegründer der hessischen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

Doch er wurde nicht nur mit offenen Armen empfangen. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen schrieb er: „In unserer Nachbarschaft spürten wir eine gewisse Ablehnung. Die Nachbarn wussten natürlich, dass wir eine überlebende jüdische Familie waren. Selten, dass wir angesprochen wurden, und wenn, dann erzählten sie uns, was sie selbst durchgemacht hätten: der Mann an der Front gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, wie oft sie in den Luftschutzkellern in Todesängsten gesessen hätten. Sie sahen sich nur als Opfer. Es hat uns nie einer gefragt, was wir durchgemacht, wieso wir überlebt hatten. Es war die allgemeine Haltung, von all den Verbrechen nichts gewusst zu haben. Über das, was der jüdischen Bevölkerung angetan worden war, gab es das große Schweigen.“

Als Kommunist erlebte er 1956 nach dem KPD-Verbot eine erneute Illegalisierung und Verfolgung durch den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit. Damit besaß er z. B. keine legale Möglichkeit mehr, sich mit seinen Mitstreitern aus der Résistance in Frankreich zu treffen. Außerdem wurde er jahrelang auf Schritt und Tritt vom Inlandsgeheimdienst überwacht.

Alle Versuche in den folgenden Jahren, sich ordnungsgemäß einbürgern zu lassen, scheiterten am damaligen Bundesinnenminister Genscher. Erst Anfang der 70er Jahre, als auch die Presse diesen Fall kritisch aufnahm, wurde die Familie eingebürgert. Doch damit war die Verfolgungssituation nicht beendet. Nun wurde die zweite Tochter Silvia, die Lehrerin werden wollte, von der hessischen Landesregierung mit Berufsverbot belegt. Peter Gingold ging daraufhin in die Offensive: „Anhand unserer Familiengeschichte konnten wir die Gesinnungsverfolgung an drei Generationen nachweisen: Die meiner Eltern in der Kaiserzeit und Weimarer Republik, die Verfolgung meiner Familie im faschistischen Deutschland, jetzt nun meine Tochter als ‚Verfassungsfeindin‘ verfolgt. Bezeichnend ist die Kontinuität in der deutschen Geschichte. Linke waren in der Kaiserzeit die ‚vaterlandslosen Gesellen‘, in der Weimarer Republik ‚Reichsfeinde‘ und in der Bundesrepublik ‚Verfassungsfeinde…

Peter Gingold wurde als Kommunist und Antifaschist ein gefragter Zeitzeuge, der aus seinem Erleben politische Konsequenzen für einen anderen Umgang mit Geschichte und Erinnerung sowie mit der Losung „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ einforderte. In diesen Veranstaltungen appellierte er immer wieder an junge Menschen, selber aktiv zu werden und für eine Veränderung der Gesellschaft einzutreten. Er stellte ihnen die Frage, was sie denn heute riskierten – im Vergleich zum damaligen Widerstandskampf, wenn sie sich für eine andere, eine sozialere und gerechtere Welt engagierten. Er konnte dabei junge Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft mit seiner schlichten und bescheidenen, aber klaren und eindeutigen Art faszinieren.

In den 1980er Jahren kämpfte er gemeinsam mit Gewerkschaftern und jungen Antifaschisten gegen die „Aktionäre des Todes“ der „IG Farben AG in Auflösung“. Mehrfach trat er selbst auf den Aktionärsversammlungen auf und klagte die Aktionäre an, Profite mit dem Blut der Opfer von Auschwitz zu machen.

Als der damalige Außenminister Joschka Fischer den ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung nach 1945 gegen Jugoslawien mit der „Verhinderung eines neuen Auschwitz“ legitimieren wollte, protestierte Peter Gingold mit einer ganzseitigen Anzeige in der „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift: „Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge“ gegen diese Instrumentalisierung von Auschwitz für Kriegspolitik.

Geschichtliche Erinnerung verstand Peter Gingold immer als Vermittlung von Erfahrungen und als Aufforderung, selber aktiv zu werden. Sein Leitmotiv, das er überzeugend vertrat, lautete: „Niemals aufgeben!“ Er verstand sich bei seinen vielfältigen Auftritten „als Reisender in Sachen Mutmachen“.

Gemeinsam mit Esther Bejarano hatte er anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der VVN noch einen „Appell an die Jugend“ verfasst, der von den Nachgeborenen ein politisches Engagement in der Tradition des antifaschistischen Widerstandes forderte.

Seine Botschaft hat Peter in den letzten Jahren seines Lebens in vielfältiger Form wiederholt: „Wenn ich in Versammlungen und Kundgebungen gegen die Umtriebe der Neonazis spreche, appelliere ich: Vergesst nicht unsere bitterste Erfahrung! Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben.

1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es für die Hitlergegner in der Generation meiner Eltern nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute haben wir alle diese Erfahrung, heute muss jeder wissen, was Faschismus bedeutet. Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern.“

Peter Gingold war ein sehr bescheidener Mensch. Orden und Ehrenzeichen waren ihm nicht wichtig, aber über zwei Auszeichnungen hat er sich tatsächlich gefreut. Die eine war die Johanna-Kirchner-Medaille, die seine Heimatstadt Frankfurt/M. 1991 ihm zusammen mit seiner Frau Ettie verliehen hat, und die andere war die Carl-von Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte (2004) für sein antifaschistisches Lebenswerk. Ungeachtet seiner schweren Krankheit stand er am 8. Mai 2005 mit einem Blumenstrauß in der Hand an der Spitze der großen Demonstration in Berlin gegen einen geplanten Naziaufmarsch. Auf diese Weise feierte er den 60. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg.

Peter Gingold starb im 29. Oktober 2006 im Alter von 90 Jahren.

Ulrich Schneider ist Präsident der FIR,

der internationalen Förderation der Widerstandskämpfer

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"Kommunist und Widerstandskämpfer", UZ vom 4. März 2016



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