Eliten, Pandemie und Black Lives Matter – Hauptthemen der neuen „Melodie & Rhythmus“

Manche sind ungleicher als andere

Elite ist ein umkämpfter Begriff. Die Melodie & Rhythmus tut richtig daran, dass sie sich ihm widmet und in der neuen Ausgabe umreißt, was damit gemeint ist. Olaf Brühl grenzt in seinem Essay „Exklusiv und abgehoben“ Elite von Avantgarde ab. Beide sind zwar dem militärischen Sprachgebrauch entlehnt, das Erste beschreibt jedoch zur Abgrenzung die auserwählten „Besten“ in der Truppe, das Letztere den vorangehenden Teil des Ganzen. Dementsprechend scheiden sich kapitalistische Elitenpolitik und Leninsches Avantgarde-Prinzip: „Die marxistisch-leninistische Partei wird als Avantgarde der Arbeiterklasse bezeichnet. Sie bedarf der ganzen lebendigen Fülle der Gesellschaft“, schreibt Brühl. „Die sozialistische Kultur kennt kein Elitedenken, aber freien Zugang zur gesamten Kultur – auch zur avantgardistischen – für alle.“

Im Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Michael Hartmann wird auch die Abgrenzung der Elite zur herrschenden Klasse im Kapitalismus deutlicher: „Was die herrschende Klasse von Eliten unterscheidet, sind zwei Punkte: Sie ist in sich viel homogener, und die Zugehörigkeit zu ihr ist sehr viel dauerhafter. Eine Eliteposition als Minister oder Chefredakteur kann man auch nur für eine kurze Zeit, zum Beispiel zwei Jahre, innehaben. Mitglied der herrschenden Klasse ist man in der Regel über Jahrzehnte.“ Dass Elite und Bourgeoisie aber keine Parallelwelten sind, sondern „Elitismus“ organisch seine großbürgerlichen Intellektuellen und Amtsträger hervorbringt, zeigt Hartmann an Frankreichs Präsidenten Macron, dem sein Werdegang als Professorensohn in die Wiege gelegt worden ist.

M&R hat einen satten Schwerpunkt gewählt, der auch in den aktuellen Themen, die das Heft behandelt, aufgegriffen wird. Auf Yachten und in Villen ist ein pandemiebedingter Lockdown nicht verbunden mit Existenzängsten, wenn man so was halt sein eigen nennt. Dass das Social Distancing des Elitenachwuchses nicht erst Corona-bedingt erwuchs, greift Maren Hansson mit „Protzen, Posten, Provozieren“ über die hemmungslos nihilistische Selbstdarstellerei von Milliardärskindern auf. Mit Covid-19 und der Wirtschaftskrise verbunden sind vielerlei Sorgen, über die der sudanesische Karikaturist Khalid Albaih lachen kann: „Eine andere Sache, die ich recht unterhaltsam finde, ist die Befürchtung des Westens, zukünftig von China dominiert zu werden. Diese Angst kennen wir allzu gut. Fremdherrschaft gehört zu unserer Wirklichkeit – egal, von welcher kolonialen oder neokolonialen Macht sie ausgeübt wird.“

Den Antisemitismusvorwürfen gegen den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe attestiert Arnold Schölzel polemisch: „Die ‚deutsche Sicht‘ ist die richtige, also universell. Da hat kein Afrikaner – oder sonst wer – eine undeutsche Sicht zu haben.“ Im Zuge der Mbembe-Kontroverse findet Mesut Bayraktar in seiner Kolumne „Klassendramatik“ deutliche Worte zum hiesigen Bühnenbetrieb. Statt „Wahrheitsfindung“ wird „die Dummheit nicht verhandelbarer Gefühlszustände“ propagiert und Vernunft restlos durch Moralismus ausgewechselt. „Während der Moralismus das Theater kolonisiert, wird Mbembe in seiner Integrität verletzt. Theater, das sich mit Unterdrückern alliiert, ist immer eine moralische Anstalt.“

Ähnlich scharf, nur leider ohne konkrete Falluntersuchungen, konstatiert Andreas Wessel der Kunst im Kapitalismus, dass vor ihr der „geistige Verfall“ nicht haltmache.

Die US-amerikanische Autorin Diana Johnstone zeigt in ihrem Beitrag auf, dass kapitalistische Ausbeutung und rassistische Unterdrückung systemisch ineinandergreifen: „Jedermann verurteilt den früheren sowjetischen ‚Gulag‘, dabei sind die US-Gefängnisse heute das größte System von Arbeitslagern weltweit.“

Die nächste Ausgabe, erklärt Verlags-Geschäftsführer Dietmar Koschmieder, müsse auf Dezember verschoben werden. Corona, Wirtschaftskrise und Rechtsruck erfordern eine Anpassung der Arbeit der M&R als „Instrument der Aufklärung im Klassenkampf“.

Melodie & Rhythmus, Heft 3. Quartal 2020, einzeln 6,90 Euro, zu beziehen über den Verlag 8. Mai

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Manche sind ungleicher als andere", UZ vom 17. Juli 2020



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