ver.di gegen ver.di: Widersprüchliche Angaben zum Inflationsausgleichsgeld

„Mehr als null Euro“

Es war ein ungewöhnlicher Vorschlag des Bahnvorstands, den die EVG schnellstmöglich zurückwies: Übernahme der Schlichtungsempfehlung in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (Bund und Kommunen). Diese Empfehlung liegt den ver.di-Mitgliedern im öffentlichen Dienst inzwischen als Verhandlungsergebnis vor, zu dem sie sich im Rahmen einer Befragung bis zum 12. Mai äußern können. Für Karin Welge, Präsidentin der „Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände“, ist es der „teuerste Tarifabschluss aller Zeiten“. Dem Bahnvorstand wäre dieser eine sofortige Tarifeinigung wert gewesen.

Warum lehnt die EVG ab, was eine andere DGB-Gewerkschaft ihren Mitgliedern als Tariflösung zur Annahme empfiehlt? Und was macht den Tarifabschluss für die Deutsche Bahn AG so attraktiv? Zum einen verwies die EVG auf ihre bahnspezifischen Tarifforderungen. Zentraler Kritikpunkt ist neben der langen Laufzeit des Tarifvertrags jedoch die Vereinbarung zur „Inflationsausgleichsprämie“, die im öffentlichen Dienst anstelle von Lohnerhöhungen gezahlt werden soll. EVG-Tarifvorstand Cosima Ingenschay kritisierte: „Um den fortwährenden Kaufkraftverlust ausgleichen zu können, müssen die Stundenlöhne deutlich ansteigen. Deshalb wollen wir keinen Inflationsausgleich, der nur kurzfristig Entlastung schafft und bei den Beschäftigten bei der Deutschen Bahn am Ende zu einem realen Lohn-Minus führt. Wir fordern mindestens 650 Euro mehr pro Monat, weil unsere Kolleginnen und Kollegen sonst immer ärmer werden.“

Diese Argumentation findet sich auch in ver.di-Materialien zu den Tarifrunden im öffentlichen Dienst und bei der Post. Für die Post-Beschäftigten forderte die Gewerkschaft 15 Prozent mehr Lohn, für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Zu der Möglichkeit, eine „Inflationsausgleichsprämie“ zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen, heißt es in einem Flugblatt aus dem März: „Zusätzlich und nicht anstatt!“ Anders als viele Unternehmen vertrete ver.di die Position, dass „mögliche tarifvertragliche Regelungen zu einer Inflationsausgleichsprämie nur zusätzlich und nicht anstelle tabellenwirksamer Entgelterhöhungen vereinbart werden sollten“. Höhere Pauschal- und Einmalzahlungen suggerierten einen kurzfristigen Gewinn, führten langfristig aber zu großen Einkommensverlusten, so ver.di. Das galt sowohl bei der Post als auch im öffentlichen Dienst jeweils bis zur letzten Verhandlungsrunde. Als Tarifergebnis für das Jahr 2023 wurde dann die Zahlung der „Inflationsausgleichsprämie“ statt einer tabellenwirksamen Lohnerhöhung vereinbart. Da­ran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese in Raten an die Beschäftigten ausgezahlt wird – damit wird lediglich verschleiert, dass es sich um eine Einmalzahlung handelt.

ver.di hat in beiden Fällen die Annahme des Tarifergebnisses empfohlen. Auf Kritik aus den eigenen Reihen reagierte ver.di am 24. April mit einem weiteren Flugblatt unter dem Titel „Mythen rund um das Inflationsausgleichsgeld“. Darin heißt es: „Neben der langen Laufzeit steht vor allem das Inflationsausgleichsgeld in der Kritik. (…) Es gibt einige wenige Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten dieses Geld ‚einfach so‘ zahlen. Fast alle Gewerkschaften, von der IG Metall bis zur IG BCE, aber auch ver.di, mussten das Inflationsausgleichsgeld in den letzten Monaten im Rahmen einer Tarifauseinandersetzung als Teil eines Gesamtpakets erst mal durchsetzen, auch wenn es kaum jemand gefordert hatte.“ Es wird ausgeführt, dass für 2023 keinesfalls eine „Nullrunde“ vereinbart worden sei, denn: „3.000 Euro sind mehr als null Euro.“ Und: „Von diesem Betrag werden keine Steuern und Sozialabgaben abgezogen. Es ist also so, als würde man diese Beträge bar auf die Hand bekommen.“ Gerade dieser Umstand war zuvor Gegenstand deutlicher Kritik: „Nur eine dauerhafte Erhöhung tariflicher Entgelte, ob prozentual oder als Festbetrag, führt zu langfristigen Entgeltsteigerungen und wirkt sich nachhaltig auf die Kaufkraft und spätere Rentenansprüche aus“, schrieb ver.di dazu noch im März.

Es gibt Tarifkämpfe, bei denen die Kraft nicht für mehr reicht. Besonders in solchen Situationen braucht es eine ehrliche Einschätzung, kein Schönreden des Verhandlungsergebnisses. Andererseits: Die Tarifforderungen haben mobilisierend gewirkt, die Beteiligung an den Warnstreiks sowohl bei der Post als auch im öffentlichen Dienst war gut.

Unabhängig vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad und der Beteiligung an Warnstreiks lassen die Tarifabschlüsse der letzten Monate in allen Branchen ein klares Muster erkennen. Es folgt der Zielsetzung der „konzertierten Aktion gegen den Preisdruck“ (UZ vom 28. April) von Bundeskanzler Olaf Scholz unter Beteiligung von Kapitalverbänden und Gewerkschaften: Einmalzahlungen als zentrales Element, geringe oder späte tabellenwirksame Lohnerhöhungen, lange Laufzeiten.

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Über den Autor

Lars Mörking (Jahrgang 1977) ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete nach seinem Studium in Peking und war dort Mitarbeiter der Zeitschrift „China heute“.

Mörking arbeitet seit 2011 bei der UZ, zunächst als Redakteur für „Wirtschaft & Soziales“, anschließend als Verantwortlicher für „Internationale Politik“ und zuletzt – bis Anfang 2020 – als Chefredakteur.

 

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"„Mehr als null Euro“", UZ vom 12. Mai 2023



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