Synchron der Zukunft zugewandt: Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Müller sen.

Mein genialer Freund

Im drittletzten Brief an seinen Kollegen, Genossen und Freund Peter Hacks, acht Wochen vor dessen Tod am 28. August 2003, schrieb der westdeutsche Autor, Publizist und Dramenanalyst André Müller sen.: „Bei allen, die beginnen den Imperialismus für unbesiegbar zu halten, muß der Marxismus notwendigerweise zum Revisionismus verkommen. Übrigens auch zur Empfindsamkeit. Revisionisten flennen immer.“ Rumgeflenne findet sich wenig im Briefwechsel, den Hacks und Müller sen. zwischen 1957 und 2003 pflegten und der nun vom Berliner Eulenspiegel Verlag herausgebracht wurde.

Zugegeben: Dem deutschen Wetter, hüben wie drüben, galt regelmäßig ihr Zorn. Müller sen. trieb es im Mai 1984 fast ins Exil beziehungsweise in die Arme einer Klima-RAF: „Dieses Wetter läßt mich an Umsiedlungspläne denken, und gäbe es einen Wettergott, ich träte auf der Stelle einer gegen ihn gerichteten terroristischen Vereinigung bei.“ Mit Hacks teilte sich der vor zwei Jahren Verstorbene die Wetterfühligkeit. Sie klagten an, jammerten aber nicht und vor allem Hacks hielt die Ruppigkeit gegenüber seinem Kumpel auch in schweren Zeiten nicht ein, schrieb er doch am 29. September gleichen Jahres an Müller sen., bei dem man grauen Star diagnostiziert hatte, die Mutter zum Pflegefall wurde und die Schwiegermutter ins Heim gebracht werden musste, dieses am Kragen packend Aufbauende: „Soweit ich erkenne, läßt sich Dein Auge vollkommen wiederherstellen, und Mütter, die von Gott geschaffen sind, um uns zu gebären und fortan zu plagen, erledigen sich eines Tages doch. Aber es ist sehr deutlich, daß das Schicksal eine Art Politbureau sein muß.“

Das Gremium rutschte Hacks nicht hinein, die politische Rückkopplung geschah stets und selbst das meist miese Wetter war für beide eine Kommentierung der sich eintrübenden Weltlage.

Denn das Gros der Briefmenge wurde ausgetauscht, als sich der Sozialismus im Abstiegskampf befand, niederging und schließlich weg war. Symptome dafür sahen beide früh, mit dem Austausch des Führungspersonals der DDR, von Walter Ulbricht durch Erich Honecker, der später nicht mitumfallen wollte und deswegen gegangen wurde, ehe Michail Gorbatschow den Ostblock von oben, aus dem Kreml, gänzlich zum Einsturz brachte.

An der Frage des Opportunismus zerbrachen Müller sen. und Hacks sich fortwährend die Köpfe. Was sie sich in den Kernjahren der Konterrevolution 1989 und 1990 darüber schrieben, findet man in der 2001 erschienen Sammlung „Nur daß wir ein bisschen klärer sind“. Der nun von Heinz Hamm und Kai Köhler herausgegebene Band komplettiert den Schriftverkehr zweier Kommunisten, die Erhellendes zur Niederlagenanalyse klug, polemisch, schalkhaft und aus ihrem Kerngebiet heraus – der Literatur – beitrugen.

Das Staatsscheitern wird dabei nicht ökonomistisch erfasst, aber materialistisch und mit der Pose eines tief wurzelnden Ränkespiels der Politik: Charaktermaskenbildner wie CIA und KGB sind die Installateure jener Amtsträger, die für diese oder jene Politik stehen. So dann auch Hacks an Müller sen. während eines Austauschs über das postsozialistische Russland in einem Brief vom 1. Dezember 2001: „Gorbatschow aber zeugte Jelzin, Jelzin zeugte Putin.“ Hacks und Müller sen. fahren Geheimdienste und große Männer auf, nicht wie Verschwörungswahnsinnige und personalisierende Küchenpsychologen, sondern wie Autoren ihre Figuren, die dann, etwa die mit vielen ihrer Züge für Honecker stehende assurische Königin Semiramis in Hacks’ Drama „Jona“, auftreten. Sie stehen hier und in den Briefen eben nicht oder nur nebensächlich als ebenjene Personen und Gruppen da, sondern bedeuten Klassen und soziale Gruppen, vermitteln Haltungen und Interessen. In der Frage etwa, ob Putin dem Imperialismus „die Stirn oder die Wangen“ bietet, wie sie Hacks 19 Tage später formuliert, steckt nicht das Rätsel um den Gusto eines Regenten, sondern das noch zu Klärende, wie sich Russland als Nation nach der Konterrevolution im Weltgefüge positioniert. Und, wie Hacks am 4. Mai gleichen Jahres schrieb, „daß Honecker mehr am Küssen von Kapitalisten gelegen war als an der Bekämpfung des NÖ-Systems“, soll nicht auf die Vorlieben des Subjekts Erich Honecker verweisen, als vielmehr auf eine vorherrschende Tendenz in den Leitungsstrukturen der DDR und den damit einhergehenden Entscheidungen, die – nicht nur nach Dafürhalten der beiden Korrespondenten – folgenschwer waren. Dazu gehört das Hinhalten der Wange gegenüber dem Westen in Form des SED-SPD-Papiers „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ von 1987, während Hacks Honecker im selben Brief in „der Revisionismusfrage und der ökonomischen Frage“ zur gleichen Zeit allerdings als „Zentrist und links von Gorbatschow“ einschätzte, eine geplante Konterrevolution von oben für die DDR der 1980er also nicht attestiert wird im Gegensatz zur KPdSU.

Fragen, was in der Kindheit passiert sein muss, damit dieser oder jene so wird, wie seine Ernährung, ihre sexuelle Orientierung oder Schuhgröße dazu beigetragen hat, dass eine Wahl so und nicht anders fällt, interessierten beide höchstens auf Ebene der allzumenschlichen Lästerei oder der Ironie, mit der sie auch sich gegenüber nicht sparten, schrieb Hacks doch, aufbauend auf eine Müllersche These am 17. September 1996: „Ein Mann, Raucher, Dicker ist natürlich schon ein halber Kommunist. (…) Ich setze fort: Metriker, Hegelkenner, Heterosexueller, Goethefreund, Tierfeind.“

Das Spiel dient dem Ernst: Den beiden ging es nicht um Satire, auch nicht um grobe Oberflächlichkeit, sondern um das Begreifen dessen, was die Bewegung, der sie angehörten, zum Stolpern brachte und was daran gesetzmäßig sein könnte. Förderlich dabei war, dass Hacks und Müller sen. sich zwar zankten, selten aber stritten, oft ergänzten und korrigierten; wie Hacks auch während der gemeinsamen Arbeit am Manuskript mit den Briefen von 1989 und 1990 am 18. April 2002 so nebenbei wie allgemeingültig schrieb, die beiden Leninisten gingen dabei „synchron – wie ja eigentlich doch immer“.
Das Synchrone aber ist nicht die Bewegung absolut Gleicher, erkannten sie durchaus an, dass sie zwar Genossen waren, das Werk von Hacks aber eines für die Ewigkeit war und weit schwerer wog. Lob und Tadel von Hacks für sein westdeutsches Gegenüber galten dementsprechend etwas mehr als umgekehrt. Die Praxis entsprach ihrer Theorie, war für beide der Kommunismus doch keine Planierung der Verhältnisse, in der die Gleichmacherei die Spitzen der Gesellschaft abschmirgelte, um alles auf ein und dementsprechend niedriges Niveau zu bringen.

Die Herausgabe der insgesamt 942 Briefe hilft, dieses stattdessen wieder anzuheben. Der Anhang macht ein knappes Drittel des Gesamtumfangs aus; die Kommentare sind umfangreich und marxistisch. Einzig dem Verlag muss man ankreiden, dass, hat man den Schutzumschlag zu seinem Schutz vor Schaden daheim verwahrt, um das Buch zum Studium mit sich zu führen, die nackten Deckel ihrem Eierschalenweiß wegen zu früh Gebrauchsspuren zeigen. Ein kleiner Abstrich an einer großen Leistung, wird dieses Buch doch jenen helfen, die André Müller sen. in der Schwärze des Tunneleingangs, am 14. November 1990, als die „Mitläufer von Übermorgen“ betitelte, also jene, die die Unbesiegbarkeit des Imperialismus nicht glauben und die man gemeinhin als Kommunistinnen und Kommunisten kennt.


Peter Hacks, André Müller sen.
Der Briefwechsel 1957 – 2003

Herausgegeben von Heinz Hamm und Kai Köhler
Eulenspiegel Verlag, 1.280 Seiten, 58 Euro
Erhältlich im UZ-Shop


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Mein genialer Freund", UZ vom 17. November 2023



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