Zum Justizskandal um den Mord an Oury Jalloh

Mitten in Deutschland

Als Oury Jalloh am Morgen des 7. Januar 2005 in das Polizeirevier Dessau gebracht wurde, hatte er nur noch kurze Zeit zu leben. Gefesselt auf einer schwer entflammbaren Kunstledermatratze in der vollständig gefliesten Arrestzelle Nr. 5, zuvor durchsucht und vom Arzt trotz 3 Promille Alkohol und Kokain im Blut für hafttauglich befunden, verbrannte der Asylbewerber wenig später bei lebendigem Leib. Seine Schreie im Todeskampf wurden nicht gehört: der wachhabende Beamte fühlte sich beim Telefonieren gestört und drehte den Lautstärkeregler runter. Der Rauchmelder wurde ignoriert – der habe schon oft ohne Grund angeschlagen, hörte man später. Um 12.11 Uhr war Jalloh tot.

Ein Radiologe kam zu dem Ergebnis, dass er vor Eintritt des Todes einen Nasenbeinbruch, einen Bruch des Schädeldachs und einen Bruch der 11. Rippe erlitten haben musste. Ein britischer Brandgutachter stellte fest, dass zum Entfachen des Feuers mehrere Liter Brandbeschleuniger notwendig waren. Die Ermittlungsbehörde behauptete dennoch, Jalloh habe sich trotz Fesselung selbst angezündet, mit einem Plastikfeuerzeug, das man erst drei Tage nach seinem Tod im Brandschutt fand. Alkoholisiert, mit gebrochenem Schädeldach, an Händen und Füßen fixiert, soll Jalloh mit dem Feuerzeug die schwer entflammbare Unterlage und damit sich selbst zum Brennen gebracht haben.

Nach über 17 Jahren Ermittlungen, die immer wieder durch die Angehörigen Jallohs erkämpft werden mussten, nach unzähligen Gutachten, ignoranten Strafverfolgungsbehörden, setzte die Familie all ihre Hoffnungen auf das Bundesverfassungsgericht. Das hat nun entschieden, indem es nicht entschieden hat: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen“, heißt es lapidar in der am 23. Februar veröffentlichten Pressemitteilung. Eine verfassungsrechtliche Relevanz des Sachverhalts sei nicht erkennbar. Wenn das so wäre, verwundert es allerdings, dass die Karlsruher Richter des „Vorprüfungsausschusses“ 26 lange Seiten Text schreiben müssen, um die Irrelevanz zu begründen.

„Wie ist so etwas möglich, mitten in Deutschland?“, fragte die Mutter Oury Jallohs, als man ihr 2005 die Todesnachricht überbrachte. Diese Frage, die zugleich eine Frage nach dem Zustand der deutschen Justiz ist, wird demnächst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg beschäftigen.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Mitten in Deutschland", UZ vom 3. März 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Auto.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit