Eisenstein wollte die Filmkunst revolutionieren

Noch vor der Moderne

Von Herbert Becker

Im Jahre 1927 hatte der sowjetische Filmregisseur Sergej M. Eisenstein seinen Film „Oktober“ fertig gedreht, er saß vor 60 000 Meter Rohmaterial und musste den Film noch schneiden. Am 12. Oktober 1927 notierte Eisenstein (1898–1948) in sein Arbeitsheft: „Der Entschluss steht fest, ‚Das Kapital‘ nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen – dies ist der einzig mögliche formale Ausweg.“ Eisenstein, vor 120 Jahren in Riga geboren und vor 70 Jahren in Moskau gestorben, galt in der Sowjetunion seit seinem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) als der einflussreichste Filmemacher der jungen Republik. Nach der Premiere von „Panzerkreuzer Potemkin“ und dem Siegeszug durch die europäischen Kinos wurde der russische Montagefilm zu einem Vorbild für viele Regisseure und Eisenstein zu seinem berühmtesten Vertreter, zum Theoretiker der neuen Expressivität. Dieser Film transportierte ein neues Filmverständnis, ein anderes Russlandbild und einen anderen Heldentyp. Die Revolution war mit Gewalt verbunden. Mit dieser Gewalt der Konterrevolution – Pogrom, Zerstörung, Aufstand und Massenvernichtung – setzten sich Eisensteins Filme auseinander. Dabei atmeten ihre apokalyptischen Bilder eine Euphorie des Neuanfangs und diese wirkte ansteckend. Die neue Ästhetik verblüffte, ihre hypnotische Wirkung konnte nicht gleich eingeordnet werden.

Das Szenarium, von dem er in seinem Arbeitsheft sprach, basierte auf seinen Überlegungen, die alltagsrelevanten Charaktere der wichtigsten Probleme des Hauptwerks der Kritik der politischen Ökonomie ästhetisch darstellbar zu machen. Karl Marx selbst sprach in der Begründung seiner Wahl der Darstellungsweise von einem „artistischen Ganzen“: „Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Wha­tever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, dass sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen.“ (MEW Band 31, Seite 132)

Eisenstein sah vor, „intellektuelle Attraktionen“ zu sammeln und so ein kamerataugliches „Sujet-Rückgrat“ zu entwerfen. Dies sollte der Ausgangspunkt für Assoziationsketten sein, mit deren Hilfe grundlegende Kapitel des Hauptwerks von Karl Marx dialektisch dargestellt werden könnten. Literarisches Vorbild für dieses ambitionierte Vorhaben war ihm der formale Aufbau des Romans „Ulysses“ von James Joyce (1922 erschienen), der in achtzehn Episoden einen einzigen Tag – den 16. Juni 1904 – im Leben des Leopold Bloom beschreibt. Eisenstein traf Joyce 1929 in Paris, vage überlegte er auch, dieses Jahrhundertwerk der Literatur parallel zum „Kapital“ zu verfilmen. Aus allen symbolischen Einstellungen des Films „Oktober“ ging klar und deutlich hervor, warum für Eisenstein der einzig mögliche formale Ausweg zur Verfilmung des „Kapitals“ nur die Montage sein konnte. Nur so wäre es möglich, zu einer vollständigen Revolutionierung des Sehens und damit des Denkens zu gelangen. Und nur so ließe sich die Metaphorik dialektisch positionieren. Das zu erreichen war für Eisenstein unverzichtbar. Genau das verfochten John Heartfield in der Fotomontage, Bertolt Brecht im Theater und Hanns Eisler in der Musik. Eisenstein formulierte in seinen Notaten „Die Börse darf nicht durch eine ‚Börse‘ wiedergegeben werden, sondern durch Tausende von kleinen Details“. Oder „Im Ablauf des gesamten Films kocht eine Frau für ihren heimkehrenden Mann Suppe. Es sind zwei sich überschneidende assoziative Themen möglich: die kochende Frau und der heimkehrende Ehemann … Die Assoziation des dritten Teiles (zum Beispiel kommt aus dem Pfeffer, mit dem sie würzt: Pfeffer, Cayenne. Teuflisch scharf: Dreyfus. Französischer Chauvinismus … Krieg. Im Hafen versenkte Schiffe … Die versinkenden englischen Schiffe …könnte man gut mit dem Deckel des Kochtopfes zudecken.“ Eisensteins Plan sah vor, das Leben dieser zwei Menschen an einem einzigen Tag zu verfilmen. Dafür gab es für ihn nur die Möglichkeit, serielle Bilder zu produzieren, Fragmentarisches, noch Offenes zu zeigen, nicht nur zu montieren, sondern die Montage selbst deutlich zu machen.

Der Ausspruch von Hegel „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann nur das wissenschaftliche System derselben sein“, wurde von Karl Marx für sich und seine Arbeit in Anspruch genommen. Die dahinter liegende Vorstellung, es gebe eine Totalität, das heißt eine Möglichkeit, den Satz von Hölderlin wahr werden zu lassen: „Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn unter den Menschen, dass nur Einer und Eines nur sei?“ war und ist für viele Künstler und Wissenschaftler bis heute eine gewaltige Aufgabe, bei der das Scheitern eingerechnet werden muss. Dietmar Dath stellte sich und uns einmal die Frage nach der Perspektive, in der Marx sein Buch wohl geschrieben habe: „Kann das Kapital ‚Ich‘ sagen?“. Im „Kommunistischen Manifest“ steht die berühmte Metapher von den versteinerten Verhältnissen, denen ihre eigene Melodie vorzuspielen sei. Wie bringt man diese Verhältnisse zum Tanzen? Was für Instrumente braucht man (wer)? Welche Musik ist das, wer komponiert sie?

Diese und andere Bilder waren für Sergej Eisenstein die Bruchstücke, die er aufnehmen wollte, die er in Filmsprache übersetzen wollte. Wie stellt man den Charakter von Ware vor, ihren Gebrauchswert und ihren Tauschwert? Wie kommt der Fetisch der Ware in eine Bildersprache, denn die Waren haben, so Marx, die Eigenschaft, dass die eine sich in allen anderen spiegelt. Dies deshalb, weil sie alle von Menschen produziert wurden, der belebten und unbelebten Natur, den Dingen wohnt der Zauber inne, eingebrachte menschliche Arbeitskraft zu sein. Wie den Zauber wiedergeben? Laut Marx ist die Ware „ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“. Ob Eisenstein sich allen Begriffen und Kategorien des Riesenwerks annehmen wollte, lässt sich aus seinen Notaten nicht entnehmen, obwohl es fast 25 000 Seiten sind.

Um das notwendige Geld für das Filmprojekt zu bekommen, immerhin sah er in seinen Plänen bereits vier Teilfilme vor, ging Eisenstein nach Westeuropa und Hollywood und arbeitete dort an zwei Filmen mit und hielt Vorlesungen. Dieser „Große Plan“, der Wunsch, ein solch wichtiges und gewichtiges Buch der Weltliteratur zu verfilmen, ging nicht auf. Eisenstein kam nicht ungeschoren durch die Zeit der Anschuldigungen und Verdächtigungen, er drehte noch zwei große Filme, den „Alexander Newski“ und den unvollendeten „Iwan der Schreckliche“. Seine Vorstellungen einer neuen Bildsprache setze er in diesen beiden Arbeiten eindrucksvoll ein, obwohl die lineare Handlung selten unterbrochen wird, seine Bemerkung in den Notaten, „es sei notwendig, Filme wie Kugeln (also wie Sterne und Planeten, die sich in einem Raum frei bewegen) herzustellen“, hat er nicht umsetzen können.

Der „Steinbrucharbeiter“ Alexander Kluge hat vor rund zehn Jahren seine Überlegungen öffentlich gemacht, die Pläne von Eisenstein aufgreifen zu wollen, ihm schwebte auch die Form der Montage, der Collage vor, er hatte natürlich die neuen technischen Möglichkeiten vor seinem Kameraauge, zu befürchten wäre gewesen, dass der für Eisenstein selbstverständliche Klassenstandpunkt bei ihm gefehlt hätte. Alexander Kluge hat seine Ideen nicht weiter verfolgt.

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"Noch vor der Moderne", UZ vom 4. Mai 2018



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