1968: Walter Ulbricht und die Prager Wirtschaftsreformen

Nüchterne Analyse und ein Kurswechsel

Von Jörg Roesler

Prof. Dr. Jörg Roesler,

Berlin, ist Wirtschaftshistoriker

Wenn in den Medien an den „Prager Frühling“ und seine gewaltsame Beendigung im August 1968 erinnert und darauf eingegangen wird, wie sich die sozialistischen Nachbarn zu den Ereignissen in der Tschechoslowakei zwischen Januar und August 1968 verhalten haben, dann schneiden die ostdeutschen Kommunisten in der Regel schlecht ab. Der Erste Sekretär der SED, Walter Ulbricht, so heißt es „gehörte zu den heftigsten Kritikern der Prager Bemühungen, das verkrustete politische System aufzubrechen“,  wie es kürzlich auch in einem Beitrag im „Neuen Deutschland“ hieß. Dabei wird übersehen, dass der Reformer Ulbricht – selbst 1971 durch Honecker abgesetzt, als es diesem darum ging, die Wirtschaftsreform in der DDR zu beenden – ab Januar 1968 ein halbes Jahr lang zu den Befürwortern oder doch Verteidigern von Alexander Dubceks Reformpolitik gehörte.

Nötige Umbrüche …

Der Grund, warum sich die Führungen in allen ostmitteleuropäischen Ländern, in Polen, der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei in der ersten Hälfte der 60er Jahre für Reformen entschieden, war ursprünglich der gleiche: Die Wirtschaften dieser Länder wurden den an sie gestellten Anforderungen nicht mehr gerecht. Anfang der 60er Jahre war erkennbar, dass die zentralistisch-administrative sozialistische Planwirtschaft nicht hielt, was man von ihr an Leistungskraft – gemessen an der Fähigkeit, gegenüber den westlichen Ökonomien aufzuholen, sie einzuholen und sie letztlich zu übertrumpfen – erwartet hatte. Die Folge: Die Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre mit beträchtlichem propagandistischen Aufwand beschlossenen ehrgeizigen Fünf- bzw. Siebenjahrpläne erwiesen sich schon bald als nicht erfüllbar. Das durchschnittliche jährliche Wachstum der industriellen Bruttoproduktion – für den sozialistischen Aufbau in den 50er Jahren die Vorzeigekennziffer für volkswirtschaftlichen Erfolg – ging in der ersten Hälfte der 60er Jahre gegenüber dem vorangegangenen Jahrfünft in jedem der vier Länder zurück. In der Tschechoslowakei, die sich seit 1960 offiziell als Tschechoslowakische Sozialistische Republik (CSSR) bezeichnete, stagnierte die Wirtschaft sogar zwei Jahre lang, 1961 und 1962. Rückläufig war in der CSSR in der ersten Hälfte der 60er Jahre auch das Wachstum des Reallohnes, verglichen mit der zweiten Hälfte der 50 Jahre.

… doch die Reform kommt nicht voran

Angesichts einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung akzeptierte, der Sekretär der Kommunistischen Partei (KPC) der CSSR, Antonin Novotny, nach längerem Zögern, dass die Parteiführung ernsthaft Maßnahmen ergreifen müsse, um die anstehenden ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen. Er akzeptierte, dass gemäß den Vorschlägen der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler in der Wirtschaftsführung eine Mischung aus zentraler Lenkung über den Plan und betriebliche Eigeninitiative anzustreben sei. Sollte diese in die richtige Richtung gehen, das heißt, dazu beitragen, den Bedarf an modernen hochleistungsfähigen Produktionsmitteln und qualitativ hochwertigen Konsumgütern zu decken, brauchten die Betriebe für die Entfaltung ihrer Eigeninitiative einen Handlungsspielraum. Um die Eigeninitiative in die gewünschte Richtung zu lenken, galt es ökonomische Hebel zu entwickeln und anzuwenden. Mit anderen Worten: Um den Übergang von extensivem zum intensiven Wirtschaftswachstum möglich zu machen bedurfte es einer Symbiose von Plan und Markt.

Anders als etwa in der DDR, wo die SED-Führung unter Ulbricht seit 1963 die Wirtschaftsreform energisch vorantrieb und die Einbeziehung der Öffentlichkeit in das Reformgeschehen bejahte, kam die Reform in der Tschechoslowakei, ungeachtet wiederholter Ankündigungen, Vorlagen und Parteibeschlüsse zwischen 1965 und 1967 – zumindest in der Wahrnehmung der tschechoslowakischen Öffentlichkeit – kaum voran.

Ein neuer Anlauf

Nach Jahren gefühlter Stagnation begann für die Reformanhänger in der Tschechoslowakei dann das Jahr 1968 hoffnungsvoll: Anfang Januar wurde Alexander Dubcek, bisher Parteichef in der Slowakei, zum Ersten Sekretär der KPC gewählt. Damit fand Novotnys zögerliche Reformpolitik ein Ende. Der „Prager Frühling“ begann. Nunmehr stießen die vornehmlich von Ota Šik und anderen tschechoslowakischen Ökonomen seit längerem vorgelegten Vorschläge für eine radikale Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus auf Gehör. In Sachen Reform begann die Parteiführung der KPC Tempo vorzulegen. Bereits Anfang April 1968 beschloss sie ein „Der Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus“ betiteltes „Aktionsprogramm“, in dem kritisch festgestellt wurde, dass auch noch während Novotnys Wirtschaftsreformpolitik die „ökonomische Instrumente, Formen von Waren- und Geldbeziehungen und Marktbindungen immer wieder durch direkte Weisungen des Zentrums ersetzt“ worden waren. Man müsse endlich die Bahn frei machen für umfassende Reformmaßnahmen.

Lehren wurden im Aktionsprogramm aber nicht nur bezüglich der Ökonomie gezogen. Mit kritischem Blick auf die Reformversuche in der Ära Novotny hieß es: „Die tiefere Ursache der Tatsache, dass sich überlebte Methoden der Wirtschaftsleitung halten konnten, bestand in der Deformation des politischen Systems. Die sozialistische Demokratie wurde nicht rechtzeitig erweitert. … So vereinigten sich politische Fehler mit Wirtschaftsschwierigkeiten.“ Daraus wurde im Aktionsprogramm der Schluss gezogen: „Man kann den wirklichen Einfluss der öffentlichen Meinung und der Ansichten der Werktätigen auf unsere gesamte Politik nicht gewährleisten …, wenn wir nicht für alle Bürger … die verfassungsmäßig garantierte freie Meinungsäußerung … gewährleisten“. Davon abgeleitet sah das Aktionsprogramm eine erweiterte Selbstständigkeit der Regierung gegenüber der Parteiführung, aber auch eine intensivere Kontrolle der Regierung durch das Parlament vor, was von den Gegnern der Dubcekschen Reform unter den tschechoslowakischen Kommunisten als Aufgabe der führenden Rolle der Partei bewertet, als Verzicht auf das Machtmonopol angekreidet wurde.

Die veränderte Haltung der Reformer zur Stellung und zu den Aufgaben der Parteiführung hatte Rückwirkungen auch auf die unmittelbare Führung der tschechoslowakischen Wirtschaftsreform. Die Reformkommission arbeitete nunmehr unter der Ägide der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Den Vorsitz übernahm der Philosoph und Technikforscher Radovan Richta, dessen gesellschaftskritisches Buch „Zivilisation am Scheideweg“, in Prag 1966 erschienen, auf große Zustimmung gestoßen war und bereits 1967 erneut aufgelegt wurde. Die Reformkommission befürwortete in einer sorgfältig begründeten Ausarbeitung, dem sogenannten „Richta-Report“, die Reduzierung des staatlichen Lenkungsapparates und den Übergang zu unmittelbarer güterwirtschaftlicher Planung durch die Betriebe. Die Leitung der Volkswirtschaft sollte nunmehr auf der Grundlage von Langfristprognosen mittels einer Rahmenplanung erfolgen, die sich auf die Hauptproportionen und die grundlegenden ökonomischen Parameter beschränken sollte. Das waren Forderungen, die der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Ota Šik bereits unter Novotny erhoben hatte. Šik wurde im April 1968 von Dubcek zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und Koordinator der Wirtschaftsreform ernannt. Nunmehr sollten seine programmatischen Vorstellungen über ökonomische Reformen endlich realisiert werden.

In der DDR hatte Walter Ulbricht von Anfang an aufmerksam die Reformbemühungen in der Tschechoslowakei verfolgt. Das geschah immer mit dem Kalkül, dass die Fortschritte bei der Bewältigung der Wirtschaftsreform des in seiner industriellen Entwicklung der DDR von allen osteuropäische Ländern am nächsten stehenden Landes auch Ulbrichts eigenen Reformbemühungen helfen würde, wenn er – auch seinen parteiinternen Gegnern der Reform gegenüber – auf das tschechoslowakische Beispiel verweisen konnte. Zu seinem Bedauern musste der SED-Parteichef allerdings bald feststellen, dass die Wirtschaftsreform im südlichen Nachbarland, verglichen mit deren Voranschreiten in der DDR, nur langsam Fortschritte machte. Die entscheidende Ursache dafür sah Ulbricht in der zögerlichen Haltung Novotnys. Er bedauerte, dass sein Prager Amtskollege „ nicht zu Veränderungen fähig“ sei. Enttäuscht stellte er fest, von Novotny wären „keine wirklichen Reformen zu erwarten“. Für Ulbricht, den aufmerksamen Beobachter der tschechoslowakischen Reformbemühungen, kam die Ablösung Nowotnys im Januar 1968 keineswegs überraschend. Er hatte „sie herbeigesehnt“, schreibt die Historikerin Monika Kaiser, auf ihre Recherchen im Parteiarchiv der SED verweisend. Schon einen Monat nach dessen Amtsübernahme im Februar 1968 traf sich Ulbricht ein erstes Mal mit Dubcek. Der SED-Sekretär – eigener Versäumnisse eingedenk – ermutigte den neuen Parteichef der CSSR, konsequent den von ihm unmittelbar nach dessen Amtsübernahme eingeleiteten Prozess der personellen Veränderungen an der Spitze der KPC weiterzuführen und Altkader durch kreative, reformfreudige Fachleute, vor allem durch Ökonomen und Techniker, zu ersetzen.

Zu seiner im Februar 1968 bezogenen Position gegenüber Dubceks Reformpolitik bekannte sich Ulbricht auch noch am 23. März des Jahres anlässlich einer ersten internen Aussprache der Repräsentanten der kommunistischen Parteien der Warschauer Paktstaaten mit der tschechoslowakischen Führung, zu der der Vorsitzende der KPdSU, Leonid Breschnew, nach Dresden geladen hatte.

Die KPdSU-Führung war stark beunruhigt über die Kaderpolitik Dubceks, die Beseitigung der Zensur, über die Propagierung eines „tschechoslowakischen Modells“, das von dessen glühendsten Verfechtern bereits auch anderen sozialistischen Ländern wärmstens empfohlen wurde. Breschnew kritisierte heftig, dass man in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit ungehindert Fehler, die die KPC in der Vergangenheit gemacht habe, diskutiere, dass man die führende Rolle der Partei in Frage stelle, die Abkehr vom sowjetischen Sozialismusmodell durch „Demokratisierung der Partei“ sowie eine „Liberalisierung der Gesellschaft“ fordere. Die KPdSU-Führung war der Überzeugung, dass in der Tschechoslowakei eine Situation entstanden sei, „die das ganze öffentliche Leben zur Konterrevolution gebracht“ habe. Laut stenografischem Protokoll der Dresdener Beratung erwartete Breschnew von den kommunistischen Parteien der anderen osteuropäischen Staaten die Unterstützung der sowjetischen Position und von der Prager Führung „den Willen und den Mut“, der „Konterrevolution einen Schlag zu versetzen“. Für den Fall, dass beides nicht geschehe, kündigte der sowjetische Parteichef Gegenmaßnahmen an.

Ulbricht war bemüht, die Ursachen für die von seinem sowjetischen Amtskollegen so negativ eingeschätzte Situation in der Tschechoslowakei nüchtern zu analysieren. Er sah die Schuld weniger bei Dubcek, vielmehr primär in einer verfehlten Politik der KPC-Führung unter Novotny, deren zögerliche und teilweise widersprüchliche Haltung gegenüber den Reformideen und -maßnahmen in den vorangegangenen Jahren die heftigen Auseinandersetzungen um die weitere Gestaltung der Reform 1968 geradezu provoziert hätte. Unmittelbar an Dubcek gewandt, erklärte der SED-Chef und offizielle Gastgeber: „Die Umwandlungen (Reformen) bei euch waren meiner Meinung nach unvermeidlich.“ Das entsprach zweifellos den Tatsachen.

Ulbrichts Kurwechsel

Während die Parteichefs mehrerer sozialistischer Länder, so die Polens und Bulgariens, sich bald offiziell der von Breschnew auf der Dresdener Tagung geäußerten Auffassung angeschlossen hatten, die besagte, dass man „nicht teilnahmslos bleiben könne“, sondern intervenieren müsse, hielt es Ulbricht weiterhin für die beste Lösung, wenn die „positiven“ Kräfte in der Tschechoslowakei selbst für die Stabilisierung der Reformbewegung sorgten. Zeichen für die Hartnäckigkeit, mit der der SED-Parteichef für eine politische Lösung des Konflikts mit der tschechischen Parteiführung eintrat, war Ulbrichts Beharren auf einem Treffen mit Dubcek im tschechischen Karlovy Vary, das am 12. August 1968, also wenige Tage vor dem Beschluss der KPdSU-Führung über den Einmarsch der „verbündeten Truppen“ in die Tschechoslowakei, zustande kam.

In Prag selbst übte man sich indessen weiterhin vor allem in Programmatik, in Verkündungen. Am bekanntesten geworden ist zweifellos das „Manifest der 2 000 Worte“ (siehe Anmerkung). Das Pamphlet wurde Ende Juni publiziert. Sechzig Intellektuelle hatten es unterzeichnet. Es bezog sich in erster Linie auf die unter Dubcek vollzogenen Veränderungen. Dazu hieß es: „Von Beginn dieses Jahres an befinden wir uns in einem Erneuerungsprozess, einem Prozess der Demokratisierung. … Er hat in der Kommunistischen Partei begonnen. Den Kommunisten gebührt … keinerlei Dank. … Vor der Öffentlichkeit steht ihr ‚Aktionsprogramm‘, das nicht zuletzt auch das Programm der ersten Wiedergutmachung der gröbsten Ungerechtigkeiten ist.“ Die Unterzeichner der „2 000 Worte“ verlangten nachdrücklich die Fortsetzung der eingeleiteten Reformen im Bereich der Politik. „In diesem Frühjahr“, hieß es, „ist uns eine große Chance geschenkt worden“. Es gelte nunmehr, die eingeleiteten Reformen gegen alle eventuellen Versuche der tschechoslowakischen Regierung, sie als Antwort auf die zunehmende Kritik der Warschauer-Pakt-Staaten zurückzunehmen, zu verteidigen.

Ulbricht setzte noch bis zum 18. August auf eine politische Lösung, stimmte erst danach der Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten und einer – allerdings nur symbolischen – Teilnahme von DDR-Truppen zu. Allerdings übernahm er damit aber auch er die Mitverantwortung für die Beendigung des „Prager Frühlings“. In der Nacht vom 20. zum 21. August rollten die Panzer. Armeeeinheiten der UdSSR, Bulgariens, Polens und Ungarns besetzten die Tschechoslowakei.

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"Nüchterne Analyse und ein Kurswechsel", UZ vom 24. August 2018



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