Die Niederlage des US-Imperialismus in Afghanistan deutet das Ende seiner Vorherrschaft an

Ouvertüre für eine neue Weltordnung

Werner Ruf

In der aktuellen Ausgabe von „Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung“ geht es unter anderem „um Hintergründe des absehbaren, wenngleich abrupten Endes der US- und NATO-Intervention in Afghanistan und die heraufziehenden geopolitischen Auseinandersetzungen um eine neue Weltordnung“ – so das Editorial. Wir drucken an dieser Stelle leicht gekürzt den Beitrag von Werner Ruf ab, der nach dem Abzug der USA deren globalen Führungsanspruch als beschädigt sieht und vor dem Hintergrund eigenständiger militärischer Bestrebungen der EU die Frage nach den Perspektiven der NATO stellt. Wir danken Autor und Redaktion der „Z.“ für die Genehmigung zur Nutzung des Beitrags. Zu beziehen ist die „Z.“ im Internet unter www.zeitschrift-­marxistische-­erneuerung.de.

Die Bilder, die uns Anfang September aus Kabul erreichten, sind grotesk. Archaische Stammeskrieger patrouillieren auf den Straßen der afghanischen Hauptstadt, bärtig und barfuß, aber mit hochmodernen Sturmgewehren. Am Flughafen versuchen US-Soldaten, vollgestopft mit modernster Bewaffnung und Elektronik, so viel wie ein Mensch nur tragen kann, tausende von Flüchtenden in Schach zu halten, um das herrschende Chaos halbwegs unter Kontrolle zu bringen: Die Supermacht, ihre Vasallen und Helfershelfer fliehen in Panik nach einem zwanzigjährigen Krieg, der mit allen erdenklichen Waffen bis kurz unter der Atomschwelle gegen ein Volk von Analphabeten erbarmungslos geführt worden war. Ist das das Ende des Welthegemonen und seiner „Wertegemeinschaft“? Öffnet sich das Tor zu einer Neugestaltung des internationalen Systems?

Der neue Präsident will – wie sein Vorgänger – die USA zu neuer Größe führen, der Generalsekretär der NATO erklärt die Kriegsziele für erreicht (und damit das Bündnis für unersetzlich) und die Vasallen erheben ihr Haupt mit dem Anspruch, den nächsten Weltordnungskrieg effizienter und „besser“ machen zu wollen. Nein: Dieser Krieg – oder besser diese Niederlage – stellt eine Zäsur dar. Wie die großen Kolonialkriege der Vergangenheit in Vietnam oder Algerien war dieser Krieg nicht militärisch, sondern an der Heimatfront verloren worden, die Bevölkerung wollte den nicht enden wollenden Blutzoll nicht mehr zahlen. Er war aber auch militärisch nicht gewonnen worden: Der Führungsanspruch des Hegemonen ist beschädigt, wenn nicht infrage gestellt.

Nicht nur hat der „einsame Hegemon“ einen zwanzigjährigen Krieg verloren. Die Welt hat sich seit 2001 verändert. „Der Terrorismus“ erscheint nicht mehr als der Hauptfeind: Die sich andeutende Entspannungsphase aus den Zeiten der deutschen Einigung, der Selbstauflösung der Warschauer Vertragsorganisation und der Charta von Paris ist endgültig vorbei. Das Feindbild Russland dominiert vordergründig die internationale Szene, wobei geflissentlich übersehen wird, dass das Ost-West-Verhältnis nicht durch die russische Annexion der Krim 2014 zerstört wurde, sondern bereits 1999 durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen (Rest-)Jugoslawien, die Neugründung eines vom Westen protegierten Staates (Kosovo) und die im gleichen Jahr beginnende Osterweiterung der NATO, die die Mitgliederzahl der Allianz von 16 in der Zeit des Kalten Krieges bis heute 30 fast verdoppelte.

Neue Unübersichtlichkeiten
Hinzu kommen weitere verlorene Konflikte mit teils schwerwiegenden Folgen: Auch aus dem Irak haben sich die USA weitgehend zurückgezogen. Das Land, gleichfalls von Korruption zerfressen, scheint ohne militärische Unterstützung kaum lebensfähig. In Syrien scheint zwar der „Islamische Staat“ weitgehend zerstört, doch seine Tentakel leben fort bis Afghanistan und Zentralafrika. Seine in den Lagern der syrischen Provinz Idlib konzentrierten Reserven werden von der Türkei als Rekrutierungsbecken für Söldner genutzt, die Erdogan in Libyen einsetzt. Die NATO-Intervention in diesem Land vermochte zwar die Herrschaft Gaddafis zu zerstören, doch seitdem gehört das Land rivalisierenden Milizen, die unterstützt und instrumentalisiert werden von einer Vielzahl von Mittelmächten mit unterschiedlichsten Interessen wie, nur um Beispiele zu nennen, die Türkei, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar. Darüber geraten der gesamte Sahelraum und Nordafrika zu neuen Krisenherden, wo nicht nur die ehemalige Kolonialmacht Frankreich (und zunehmend die Bundeswehr) kriegerisch mitspielen, sondern auch das 2007 gegründete US-Africa Command (AFRICOM) an zahlreichen Konflikten auf dem ganzen Kontinent beteiligt ist.

Aus dieser Perspektive scheint es, als ob Afghanistan und der hastige Rückzug der USA (und ihrer Vasallen) eine Wendemarke in der internationalen Politik darstellten, die das Eingeständnis der militärischen Überdehnung (military overstretch) signalisiert. Kann die US-Ökonomie neben den gewaltigen Kosten für den Militärhaushalt in Höhe von 649 Milliarden US-Dollar (zum Vergleich: Russland 61 Milliarden) die steigenden Kosten aufgrund von Pandemie und Klimawandel weiterhin schultern? Können die weltweit rund 750 Militärbasen in etwa 140 Ländern noch über Jahre, ja Jahrzehnte finanziert werden? Und gerade Afghanistan zeigt: Geld und Hochrüstung sind längst nicht alles, was Kriege entscheidet. Auch im Zeitalter der Hochrüstung und der Drohnenkriegführung scheint die Kampfmoral der Truppen vor Ort noch immer ein entscheidender Faktor zu sein.

Das Framing der westlichen Berichterstattung zu Afghanistan und den Folgen erscheint noch immer extrem begrenzt auf militärische Entwicklungen im Lande selbst und auf eine Einordnung des Konflikts in den Rahmen neuer Großmachtrivalitäten, die aus dem vor allem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas resultieren. Dabei werden neue Zusammenschlüsse und Organisationen so gut wie nicht beachtet, die neue makropolitische Kräfteverhältnisse abbilden, die aber auch für internationale friedliche Lösungen genutzt werden könnten – sofern das gewünscht würde.

So hat sich – im Jahre der Afghanistan-Invasion 2001 – die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) gegründet. Ihr Ziel ist die politische, militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten. Mitglieder sind: China, Indien, Kasachstan, Kirgisien, Pakistan, Russland, Tadschikistan, Usbekistan. Diese Staaten repräsentieren mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung. Beobachterstatus haben: Afghanistan, Belarus, Mongolei und Iran, dessen Aufstieg zum Vollmitglied derzeit verhandelt wird. Die SOZ muss verstanden werden im Zusammenhang mit der Gründung (2009) der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika): Sie stellen den Zusammenschluss jener Staaten dar, die zusammen etwa 25 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts erwirtschafteten. Sie stellen circa 40 Prozent der Weltbevölkerung. Als Gegenpol zum IWF und der Weltbank wurden eine eigene Wirtschaftsbank und ein Reservefonds aufgebaut. In Komplementarität zum BRICS-Abkommen kann die SOZ als der Versuch zur Schaffung eines auch politischen und gegebenenfalls militärischen Gegengewichts gegen „den Westen“ verstanden werden. Die voraussichtliche Vollmitgliedschaft des Iran akzentuiert diese Stoßrichtung.

Perspektiven der NATO
Am 12. September 2021 äußerte sich erstmals NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem langen Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)“ zu dem Debakel des Bündnisses in Afghanistan. Mantrahaft wiederholte er die Sprachregelung der NATO, dass das Ziel der Intervention erreicht worden sei: Nie wieder würden von Afghanistan weltweite Terroranschläge ausgehen – als ob die Attentäter von 9/11 nicht fast ausschließlich Saudis gewesen wären und als ob dieses Ziel nicht schon ein Jahr nach der Intervention, spätestens aber mit der Ermordung Bin Ladens durch ein US-Spezialkommando am 2. Mai 2011 erreicht gewesen wäre. Ebenso wiederholte er die Sprachregelung, dass niemand hätte wissen können, dass die afghanische Armee nicht mindestens noch drei bis sechs Monate gegen die Taliban kämpfen würde. Dass die NATO den größten Militäreinsatz seit ihrem Bestehen gegen die bärtigen und barfüßigen Gegner kläglichst verloren hatte, ist mehr als offenkundig. Die Uneinigkeit zwischen der Führungsmacht des Bündnisses und ihren Vasallen existierte schon länger. Die vielfältigen Folgen für das Verhältnis der Mitglieder untereinander werden sich noch zeigen. Ist das bereits offenkundige Zerwürfnis zwischen den USA und Frankreich um den Verkauf von acht U-Booten an Australien nur ein mildes Wetterleuchten oder Signal für eine tiefgehende Entfremdung? Immerhin führte es bereits zur Abberufung der französischen Botschafter in Canberra und Washington – einer Ungeheuerlichkeit zwischen Bündnispartnern und „Freunden“.

Deutschlands Selbstverständnis
Ihre Konsequenzen aus dem Afghanistan-Debakel hat Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer ausführlich am 18. September 2021 in einem Interview mit der „FAZ“ dargestellt. Die Distanz zu den USA war unüberhörbar und immer gekoppelt an die Schaffung eines neuen, europäischen Führungsanspruchs: „Wenn wir als Europäer ernst genommen werden und glaubwürdig sein wollen, dann müssen wir auch glaubwürdig handeln können. Das heißt nicht, dass wir uns von den Amerikanern trennen sollten. Aber es kann Situationen geben, in denen wir eine andere Interessenlage haben, auch in der NATO.“ Genau diese Feststellung einer neuen Selbstständigkeit verknüpfte sie klar mit dem (ursprünglich von der NATO vorgegebenen) Ziel, künftig zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für die Aufrüstung auszugeben, da „mehr einsatzbereites Material und politische Rückendeckung … für robuste Mandate“ notwendig seien.

Hier zeigt sich klar das Ziel Deutschlands, das auf mehr Eigenständigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik gerichtet ist, denn das Zwei-Prozent-Ziel impliziert eindeutig, dass die stärkste Wirtschaftsmacht nun auch militärische Führungsmacht in der EU wird.

Unter der Decke dürfte der Kampf zwischen den Bündnispartnern vor allem zur Frage des Umgangs mit Russland und China, aber auch um künftige Militäreinsätze und deren Mandate und Führung weitergehen. Ob die „eiserne Faust des Kapitalismus“, wie Samir Amin die NATO nannte, geschlossen bleiben wird, wird sich zeigen. Auch ein zerstrittenes, weniger handlungsfähiges Bündnis wäre keine reine Jubelbotschaft: Im Schatten der Diskussion um die NATO hatten bereits die EWG und später die EU mehr – auch militärische – Eigenständigkeit gefordert. Der Durchbruch erfolgte im Vertrag von Maastricht (1992) und 2007 im Vertrag von Lissabon (siehe Artikel 42 und 43). Mit der Schaffung der PESCO (Permanent Structural Cooperation), der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (2017), sollte die Einsatzfähigkeit und Schlagkraft europäischer Streitkräfte erheblich verbessert werden. Zugleich sieht PESCO ein weiteres Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten vor: An PESCO sollten sich die Staaten der EU beteiligen, die „fähig und willens“ sind, eine solche Operation durchzuführen. Damit ist letztlich die deutsch-französische Führung solcher Vorhaben festgeschrieben. Das schon lange in der Debatte einer eigenständigen europäischen Verteidigungspolitik schwelende Konkurrenzverhältnis zwischen EU-Europa und den USA trat offen zutage, als die Nicht-EU-Mitglieder USA, Kanada und Norwegen im Mai 2021 erklärten, sie wollten dem PESCO-Projekt zur Effektivierung der militärischen Mobilität beitreten, was die EU so schlicht nicht ablehnen konnte. Die USA demonstrierten hier klar und deutlich, dass sie in Fragen der Verteidigung Europas immer noch das letzte Wort haben wollten – und die Europäer kuschten lautlos. Dieser Schritt ruft Erinnerungen wach an jene Definition der Aufgaben der NATO, die der erste Generalsekretär des Bündnisses, der Brite Lord Ismay, gegeben hatte. Nach ihm waren die drei Aufgaben der NATO „to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down“.

Nach dem fluchtartigen Abzug der USA aus Afghanistan, nach ihrem weitgehenden Verzicht auf Koordinierungen dieses Abzugs „im Bündnis“ treten jene Kräfte offen auf den Plan, die eine souveräne Militarisierung EU-Europas einschließlich der Schaffung eines genuin europäischen militärisch-industriellen Komplexes fordern. Als richtungweisend kann hier der deutsch-französische Vertrag vom 22. Januar 2020 gesehen werden, der implizit die deutsch-französische Führungsrolle in einem militarisierten Europa festschreibt, explizit ein gigantisches Aufrüstungsprogramm darstellt. Diese Entwicklung könnte an den Lebensnerv der NATO gehen. Ob eine solche militärische Eigenständigkeit einer von Deutschland dominierten EU aus friedenspolitischer Sicht begrüßenswert ist, ist eine ganz andere Frage: Nicht die (teilweise) Schwächung der NATO durch die Schaffung neuer Militärbündnisse in einer zunehmend multipolaren Welt muss Ziel von Sicherheitspolitik sein, sondern der Ersatz von Militärbündnissen jeglicher Art durch den Aufbau von Strukturen gegenseitiger kollektiver Sicherheit und, damit einhergehend, radikale Abrüstung.
(Abschluss des Manuskripts 22. September 2021)

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"Ouvertüre für eine neue Weltordnung", UZ vom 3. Dezember 2021



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