Konkave Wahrnehmung: „Die Monde vor der Landung“ von Clemens J. Setz

Panzergroßer Stern

Peter Benders autofiktionaler Roman „Karl Tormann – Ein rheinischer Mensch unserer Zeit“ (1927 erschienen) findet sich immer noch im Programm des Worms-Verlages. Bender selbst hatte viel von sich, seiner Zeit und seinem schrulligen Weltbild zu berichten. Genug, dass sich Büchner-Preisträger Clemens J. Setz den komischen Kauz als Hauptfigur seines neuen Romans „Die Monde vor der Landung“ wählte.

Und Logikjongleur Setz nimmt nicht jeden. Bei dem 1893 geborenen Bender, der während des Ersten Weltkriegs als Aufklärungsflieger eingesetzt wird, hat der Österreicher aber ein Exemplar gefunden, Setzscher als viele seiner eigenen Schöpfungen. Denn Bender biegt die Erde konkav. Seiner Weltsicht nach lebt man nicht auf, sondern in der Erde, der „Hohlerde“. Wie bei einem Ei steckt alles im Inneren und da, wo der Dotter ist, steht ein kleiner Stern: „Und so viel Licht ringsum, von einer so winzigen Sonne. Dabei gerade mal apfelgroß, nach Ansicht mancher, aber eher wohl so groß wie ein Panzer, oder vielleicht ein kleinerer Weinberg; was weiß man schon.“ Leben, Tod, dazwischen vielleicht sogar Genuss – alles steckt in ihr drin.

Benders aus Esoterik, Gnostik und Mathematik zusammengequirlte Lebensphilosophie gerät bei Setz zur Poesie, ohne dass dabei aber das Politische ästhetisiert wird, wie es nach Walter Benjamin der Faschismus zu tun pflegt. Einfach weil Bender keinerlei Wirkmacht hat; man kann mit ihm keinen Staat machen, ja kaum einen Privathaushalt schmeißen. Als Kriegsversehrter durchleidet er mit seinen beiden Kindern und Frau Charlotte, die er an der Ostfront im Lazarett kennenlernte, die Nöte von Inflation und Wirtschaftskrise. Seine Ansichten zur Gleichberechtigung der Geschlechter mitsamt einer polyamoren Aufhebung des alten Eheverhältnisses kann er nicht einmal so weit in die Praxis umsetzen, dass er seiner Frau die auf Oralverkehr spezialisierten Affären offenbart, die er pflegt. Die Gemeinde der von ihm gegründeten „Wormser Menschheitsgesellschaft“ scheint ihm wenig treu und entspringt wohl eher den Einbildungen, die seine pathologische Selbstüberhöhung begleiten. Das lassen auch spätere Psychiatrieberichte vermuten, die sich im Roman neben Originaldokumenten finden, wie Fotos und Korrespondenzen mit ähnlich Denkenden in den USA. Bender geht in der Weimarer Republik wegen Blasphemie für sechs Wochen ins Gefängnis, unter den Nazis dann droht ihm und seiner jüdischen Ehefrau weit Schlimmeres.

Bender aber kann und will die Gefahr nicht sehen. Als er angibt, nach Nordamerika zu schreiben, scheint bei Charlotte kurz die Hoffnung auf, es ginge um ihre Emigration dorthin. Peter Bender aber ist selbst eine Hohlerde, in sich verschlossen, mit sich beschäftigt und dabei fragil wie ein Ei. Er neigt zu Anfällen in beide Richtungen: Ohnmacht und Wut. Wenn man in der Welt feststeckt, wie kann man da flüchten wollen?

Während der Krieg die Bomben zurück nach Deutschland trägt, ehe die Faschisten Bender einer unbedachten Aussage wegen ins Konzentrationslager Mauthausen deportieren werden, sitzt mit ihm während eines Luftangriffs in einem Bunker in Frankfurt am Main eine Schwangere – „entweder das oder er sieht wieder einmal alle Formen verzerrt und aufgedunsen“ – und zu jener Schwangeren oder Nichtschwangeren sagt Bender: „Ich wünschte, ich würde in das alles hier hineingeboren werden. Dann hielte ich es für normal.“

Der tragischen Erzählung einer Kleinfamilie, eines erfolglosen Egomanen mit konkaver Wahrnehmung, die den Roman so fulminant macht, stehen andere Biografien gegenüber. Wie die von Benders Spinnerkollegen Lang, der unter den Nazis ordentlich Karriere macht und entsprechende Auflagehöhen verzeichnen kann; für den es Normalität gibt, wenn er von durch die jüdische Weltverschwörung verschleppten arischen Kindern erzählt und ihm geglaubt wird, weil solch völliger Vernunftverlust das ist, was man hören will im sogenannten Dritten Reich. Auch der Literat Johannes Schlaf, dessen Vortrag Bender nebst Massen an furchteinflößend-involviertem Jungvolk besucht, wird glücklich in der offenen Terrorherrschaft. Die ideologische Brücke hatte Schlaf sich selbst gebaut: Mit der Rassenlehre des deterministischen Naturalismus, den er mitprägte.

Für Biologismen ließ sich die Schale des Nietzscheaners Peter Bender im Gegensatz zu christlicher Mystik und Reinkarnation nicht so erweichen, wie es der Überbau des deutschen Faschismus brauchte. „Die Monde vor der Landung“ zeigt: Nicht jeder Wahnsinnige wird Faschist, aber jeder Faschismus operiert mit Wahn.

11 Bild 2 - Panzergroßer Stern - Clemens Setz, Suhrkamp - Kultur


Clemens J. Setz:
Die Monde vor der Landung
Suhrkamp, Berlin 2023, 528 Seiten, 26 Euro


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Panzergroßer Stern", UZ vom 24. März 2023



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