Probleme der Formierung der Klasse im Wohngebiet

Reflektionen über meinen Stadtteil

In der Klasse wirken. Das ist die Hauptaufgabe, die die DKP auf ihrem Parteitag im Frühjahr be­schlossen hat. Nicht als Stellvertreter­politik, sondern als gemein­sames Eintreten für die eigenen Interessen. Auf diese Aufgabenstellung soll die gesamte Organisation konse­quent ausgerichtet werden. Mit konkreten Schwerpunkten in jeder Grundorganisation – betrieblich oder kommunal. Das erfordert eine Analyse ihrer Einzugsgebiete, des politischen und persönlichen Umfelds hinsichtlich der betrieblichen und sozialen Situation, vergangener und laufender Klassenkämpfe in der Region, der Bündnisstrukturen und Eingriffsmöglichkeiten der Gruppe.

Das ist ein dickes Brett, an dem meine Gruppe und auch ich gerade bohren. Keine leichte Aufgabe, aber nötig. Bewusst ist mir: Probleme zu benennen alleine reicht nicht. Widerspruchserfahrungen müssen von den Menschen selbst verarbeitet werden. Erst dann können sie eine Grundlage politischer Praxis sein. Die Leute in meinem Stadtbezirk gehören zwar objektiv fast alle zur Arbeiterklasse, leiten für sich daraus aber nicht automatisch gemeinsame Interessen ab. Sie sind „Klasse an sich“, wie Marx sagen würde. Die Bedingungen für die Entwicklung von Klassenbewusstsein („Klasse für sich“) sind schwieriger geworden.

Wenige hundert Meter von meinem Wohnort befindet sich die stillgelegte Zeche und Kokerei Zollverein. Die Zeche wird heute auch als die „Kathedrale des Ruhrgebiets“ bezeichnet und findet sich mit ihrem markanten Förderturm auf vielen Titelbildern. Beheimatet ist im Gelände des Ruhrmuseums ein Restaurant mit guter Küche, die sich im Stadtteil aber kaum einer leisten kann. Hinzu kommen Kleinbetriebe mit Design, Designmöbeln, ein Designmuseum und ein Teil der Folkwang-Hochschule. 90 Prozent der Einrichtungen sind für die übergroße Mehrheit der Menschen in den Stadtteilen Fremdkörper. Allerdings wird im Gelände der Industriekultur gerne Fahrrad gefahren und spazierengegangen.

Früher prägten Zeche und Kokerei die Arbeit und das Leben im Stadtteil. Die Zeche war bis 1986 aktiv, die Kokerei bis 1993 – auf der Kokerei waren um die 1.000 Beschäftigte, auf der Zeche in Hochzeiten bis 8.000. Zu den größten Betrieben gehörten jeweils ein Krankenhaus in beiden Stadtteilen. Die wurden während der Pandemie von der katholischen Trägergesellschaft aus Profitgründen geschlossen.

Migration war seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer ein wichtiger Faktor. Der Bergbau brauchte Arbeitskräfte – die Menschen, die kamen, interessierten wenig. Gar nicht mehr, seitdem das, was man Strukturwandel nannte, komplett gescheitert ist.

Das Ergebnis dieses Scheiterns zeigt sich allerorten:

Der Stadtteil Altenessen-Süd hat 27.000 Einwohner, eine Arbeitslosenquote von 13,6 Prozent. Der Median des Bruttoeinkommens der Beschäftigten liegt mit 3.080 Euro 600 Euro unter dem Durchschnitt der (relativ armen) Stadt Essen. 30,4 Prozent der Bevölkerung des Stadtteils beziehen existenzsichernde Leistungen. Bei Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 18 ist dies jeder zweite (49,2 Prozent).
Im Stadtteil Stoppenberg sind die Zahlen etwas besser, aber immer noch dramatisch. Von 16.600 Einwohnern sind 9,5 Prozent arbeitslos, der Median des Bruttoeinkommens der Beschäftigten liegt 200 Euro unter dem Essener Durchschnitt. Existenzsichernde Leistungen beziehen 21,7 Prozent, bei Kindern und Jugendlichen sind es 36,6 Prozent. Armut ist also prägend für diese Stadtteile, genauso wie Migration. In Altenessen-Süd sind 46,9 Prozent der Menschen Doppelstaatler oder Nichtdeutsche, in Stoppenberg 32,8 Prozent.

Zuletzt zwei erschreckende Zahlen, die die Folgen von Armut verdeutlichen. Bei den Schuleingangsuntersuchungen zeigten in Stoppenberg 34 Prozent aller Kinder Gesundheitsstörungen in den schulrelevanten Entwicklungsbereichen, in Altenessen-Süd gar 56 Prozent.

Festzustellen ist:

Erstens: Armut ist keinesfalls förderlich für die Formierung der Klasse. Denn sie zwingt die Menschen, sich wie in einem Hamsterrad im Kampf um die tägliche Existenz zu bewegen.

Zweitens: Migration bringt unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit und Armut sowie der Auflösung (groß-)industrieller Zusammenarbeit durchaus Probleme neuer Qualität hervor.

Beide Faktoren führen zu einer neuen Form der Milieubildung, die auch die Züge einer Ghettoisierung hat.

Armut und Formierung der Klasse

Wenn die soziale Lage innerhalb der Arbeiterklasse sich wie eine Schere entwickelt, macht es das schwerer zu erkennen, dass man zur selben Klasse gehört. Der Angestellte mit Dienstwagen und der Empfänger von ALG II haben es schwer, ihre gemeinsame Klassenzugehörigkeit zu erkennen, und Medien und Ideologieapparate tun auch alles dafür, dies zu verschärfen. Der ALG-II-Empfänger wird als faul und selbst an seiner Lage schuld verteufelt, der Angestellte durch Medien und FDP als Leistungsträger gebauchpinselt. Gemeinsames soziales Leben gibt es immer weniger (Sportvereine etc.), gemeinsame Kämpfe nur sehr selten.

Migration und Formierung der Klasse

291201 Krankenhaus - Reflektionen über meinen Stadtteil - DKP, Kommunalpolitik, Stadtteil - Politik, Kommunalpolitik
Der Kampf gegen die Schließung von Krankenhäusern in Essen – phantasievoll und im Bündnis mit Beschäftigten und den Menschen im Stadtteil, die eine gute und erreichbare Gesundheitsversorgung brauchen. (Foto: Peter Köster)

Flucht und Migration sind objektive Erscheinungen im imperialistischen Stadium des Kapitalismus. Kriege, internationale Ausbeutungsverhältnisse, ungleiche Entwicklung bringen sie zwingend hervor. Die Frage „Bist du für oder gegen Migration?“ mit Ja oder Nein zu beantworten ist deshalb unsinnig.

Trotzdem muss natürlich auch die Arbeiterklasse lernen, mit diesen Erscheinungen des Kapitalismus/Imperialismus umzugehen. Da treffen unterschiedliche Kulturen, aber auch unterschiedliche geschichtliche Erfahrungsschätze und Entwicklungen der verschiedenen nationalen Abteilungen der Arbeiterklasse aufeinander. Im Rahmen der großindustriellen Produktion waren der Austausch und die Vereinheitlichung, also die Formierung, sicherlich einfacher als heute. Heute und im Gefolge der Zuspitzung der sozialen Situation erlebe ich, dass sich Menschen mit einem Migrationshintergrund aus der Türkei wesentlich stärker als früher an Religion oder der türkischen Nation orientieren.

Geschichtslosigkeit wird ­gefördert

In den Stadtteilen gibt und gab es vielfältige geschichtliche „Monumente“ von Klassenkämpfen. Eines konnten wir erhalten. Im Stadtteil Katernberg, direkt nebenan und in direkter Nachbarschaft von Bergbauschächten, die auch zur Zeche Zollverein gehören, entdeckten wir vor etwa 25 Jahren ein Bergarbeiterhaus mit der Inschrift „Wählt Thälmann“. Eine ältere Bewohnerin der Straße erzählte uns, dass sich die Faschisten in das enge Umfeld des Hauses selbst in der Zeit der faschistischen Herrschaft nicht so recht trauten. Im kalten Krieg und vor allem in der Adenauer-Ära muss die Schrift wohl zugewachsen gewesen sein. Auf jeden Fall stellten die Denkmalbehörden fest, dass sie aus den Präsidentschaftswahlkämpfen der Weimarer Republik stammt. Unser Antrag auf Denkmalschutz wurde anfangs negativ beschieden – in der Bezirksvertretung, der untersten kommunalpolitischen, parlamentarischen Ebene äußerten die Sozialdemokraten „Wenn die Kommunisten Denkmäler wollen, sollen sie nach drüben gehen“. Letztendlich gelang es aber, Denkmalschutz durchzusetzen. Das brachte uns Öffentlichkeit (bis hin zum Regional-TV) und ärgerte bürgerliche Politik und Bürokratie – zur Formierung der Klasse hat es eher nicht beigetragen.

Freizeit und Erholung

Der Kampf um den Helenenpark erfasste die Arbeiterklasse nur wenig und war trotzdem notwendig. Der Helenenpark, ein ehemaliges Zechengelände, gehört heute zur „grünen Lunge“ der Stadtteile. Auf der einen Seite des Parks gibt es eine Siedlung mit einer Mischung aus Armut, Migration und weitgehend verrenteter deutschstämmiger Arbeiterklasse. Der Park selbst ist Ziel fürs Wochenende mit Grillen, Familie und Sport, auf der anderen Seite ist er mehr Hundewiese.

Dieser Park sollte einmal zu einem Golfplatz umgestaltet werden. Eine Bürgerinitiative der Anwohner verhinderte dies.

Seit Jahrzehnten droht die Planung, eine Autobahn durch Essen mitten durch diesen Park zu führen. Das wäre für alle Anwohner, gleich ob ärmerer Teil oder der „Bessergestellte“ der Arbeiterklasse, eine Katastrophe.

Alle konnten in Kämpfe gegen diese Planungen einbezogen werden. Leider kaum die migrantischen Teile.

Kultur und Bildung

Im historischen Stoppenberger Rathaus befindet sich die öffentliche Stadtteilbibliothek. Sie sollte bereits mehrfach geschlossen werden. Eine von uns initiierte Bürgerinitiative verhinderte das. Dass die Stadt Essen diese Planungen fallen ließ, war dann aber wohl eher darauf zurückzuführen, dass es gelang, in anderen betroffenen Stadtteilen vor allem auch das Bildungsbürgertum zu mobilisieren und die damalige CDU/Grüne-Stadtregierung uns den Einbruch in ihr Klientel nicht gönnen wollte. Auch diese Auseinandersetzung trug wohl wenig zur Formierung der Arbeiterklasse bei, hatte aber trotzdem ihre Bedeutung, weil die Zerschlagung kultureller Struktur letztlich natürlich vor allem die Arbeiterklasse trifft.

Bürgerentscheid gegen ­Krankenhaus-Schließung

Es gab in jüngster Zeit eine Auseinandersetzung, in der es uns gelang, unterschiedliche Milieus der Arbeiterklasse zusammenzuführen, und bei der es ebenfalls gelang, in größerem Umfang Migrantinnen und Migranten einzubeziehen. Das war der Kampf gegen die Schließung der beiden Krankenhäuser beziehungsweise um deren Wiedereröffnung in öffentlicher/städtischer Trägerschaft. Die Aktiven des Bündnisses rekrutierten sich aus einigen Mitgliedern der SPD, aus Aktiven der DIDF und Mitgliedern der DKP. Anfangs waren auch einige Mitglieder der Grünen dabei, die aber sofort ausstiegen, als sich in Essen wieder eine CDU/Grüne-Stadtregierung bildete. Die Hauptform war die Sammlung von Unterschriften für einen Bürgerentscheid. Wir waren in der Sammlung recht erfolgreich. Die Schwarz-Grüne-Ratsmehrheit erklärte dann das Begehren für unzulässig – es gibt jetzt eine gerichtliche Auseinandersetzung, die allerdings Jahre dauert.

Versuch eines Fazits

Ich kann kein abschließendes Fazit ziehen, will aber einige Punkte benennen, die meines Erachtens tiefer zu beleuchten sind:
Der Formierungsdruck der großindustriellen Produktion ist auch aufgrund der Produktivkraftentwicklung in Regionen wie dem Ruhrgebiet kaum mehr gegeben.

Die Fragmentierung der Arbeiterklasse ist stärker geworden, sie führt zur Bildung von unterschiedlichen Milieus innerhalb der Arbeiterklasse, die kaum miteinander in Kontakt stehen.

Das Entwickeln gemeinsamer Kämpfe, die diese Milieuschranken innerhalb der Klasse überwinden, ist kompliziert – die Bedeutung solcher Kämpfe für die Formierung der Klasse aber eher gewachsen.

Ansatzpunkte sind dennoch vorhanden. Ein Beispiel: Es gibt in Essen tief verankert im Alltagsbewusstsein eine Identität des (armen) Essener Nordens. Empfindet man im Essener Norden Ungerechtigkeit, so ist ein gebräuchlicher Stehsatz: „In Bredeney hätte es das nicht gegeben.“ Bredeney, das ist der Stadtteil, in dem in Essen „die Schönen und Reichen“ wohnen, zum Beispiel die Aldi-Familien.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Reflektionen über meinen Stadtteil", UZ vom 21. Juli 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit