Das Literaturfestival Prosanova fand diesmal im Internet statt

Sehr glatt, sehr nackt

Manche Traditionen halten sich hartnäckig und landen erst durch zusammengelegte menschliche Muskelkraft und antirassistische Entschiedenheit im Hafenwasser von Bristol. Andere Traditionen fallen nicht aus der Zeit. Nicht, wie die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston, durch Protestierende, sondern durch Corona, wurde das diesjährige Prosanova physisch aus dem öffentlichen Raum verfrachtet. Kein Problem für das seit 2005 von der Hildesheimer Literaturzeitschrift „Bella triste“ veranstaltete „Festival für junge Literatur“ (www.bellatriste.de). Es findet schließlich alle drei Jahre an immer anderen Orten statt, diesmal eben online.

„Glätte und Reibung“ war das Motto für das vergangene Wochenende. Schon in der Anmoderation der künstlerischen Leitung wurde auf Missstände im Literaturbetrieb hingewiesen, in dem Literaturproduzent zu sein immer noch mehr Geburtsrecht ist als eine Frage von Können und Wollen.

Im Folgenden fand innerhalb der Gespräche viel Glätte statt: Cihan Acar und Tonio Schachinger zockten FIFA und redeten über ihre Debütromane über Fußball. Auch die explizit politischeren Debatten gingen stark vom Konsens der Diskutierenden aus. Sicher wäre da bei physischer Anwesenheit – auch des Publikums – mehr Reibung drin gewesen.

Letztlich gelang ein sicher nicht astreines, aber formatreiches Festival: Podcasts, Video-Lesungen, Schnitzeljagd, ein (leider nicht wirklich genutztes) Fan-Fiction-Forum und und und. Zu viel zum Nacherzählen. Deshalb hier einige Highlights: Anaïs Meiers sarkastische Umstülpung des Nature Writing und ihre Arschruhe beim Vorlesen urkomischster Sachen – eine meiner Mitguckerinnen gestand daraufhin ihren „Girl Crush“, also eine kleine platonische Verknalltheit, auf Meier. Sätze, wie „Er legte sich sehr nackt auf mich“ (Christian Hoedl), und „Manche scheißen in Ecken, andere lesen Adorno“ (Yade Yasemin Önder). Judith Keller, die Corinna T. Sievers am aufgezeichneten Gesprächsende einen schönen Muttertag wünscht und zur Antwort bekommt: „Ja, danke! Ich hasse ihn.“ Nicht jede Tradition kommt gut an.

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Sehr glatt, sehr nackt", UZ vom 19. Juni 2020



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