… eine westdeutsche Erfindung

Verwertung des Ostens

Kolumne

Über Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ wird derzeit viel diskutiert. Natürlich sind Himmelsrichtungen keine Erfindungen, aber gemeint ist ja der Osten in seiner westdeutschen Bearbeitung. Dass bei der kapitalistischen Verwertung der DDR – und darum ging es seit 1949, wenn westlich der Elbe Wiedervereinigung auf dem Panier stand – politische wie soziale Verwerfungen nicht ausbleiben würden, wird den Bedächtigen kaum verwundert haben. Hier steht nun ein geballter Wutbericht zu Buche. Der Autor kommt aus dem Osten und seine ausnahmsweise gefestigte Stellung im westdeutsch beherrschten Universitätsbetrieb ermutigt ihn, sich scharfe Wahrheiten auf die Zunge zu legen. Das macht er überzeugend.

Freilich weiß er um die Wirkung seines Degenstichs in eine ostdeutsche Realität, die sich seit Treuhandwüterei und Deklassierung ostdeutscher Lebensläufe, seit Überschüttung der Märkte im Osten mit dort nicht produzierten Waren und all dem neokolonial anmutenden Belehrungseifer westdeutscher Emissäre – oft Minderbegabungen mit Buschzulage (allein dieser Begriff!) – erheblich von der Kohlschen Verheißung blühender Landschaften unterscheidet. Stattdessen grassiert im Osten noch immer das Gefühl, in Verhältnisse geworfen zu sein, die von der Siegerkanzel arrogant als das Beste der Geschichte gepredigt werden, weshalb bei der Vereinnahmung der DDR die Umerziehung der „verzwergten“ Ostdeutschen erforderlich gewesen sei. Zu Recht empört sich Oschmann über Arnulf Baring, der 1991 im Gespräch mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler sein faschistoid verzerrtes Bild vom Gebrauchswert der Ossis umriss: „Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten.“ Und Siedler assistierte noch, eine neue „Ostkolonisierung“ sei nötig. Am Beispiel des „Spiegel“ belegt Oschmann die „unangefochtene Diskursherrschaft des Westens“ und den „systematischen, medial forcierten Totalausschluss des Ostens aus der Gesamtgesellschaft, sofern der Osten komplett als fremdes, abnormes und peinliches Element markiert wird“. Nicht nur der Autor ist der denunziatorischen Beschreibung des andersartigen Lebens in der DDR müde. Mit ihm ist es ein Großteil der Ostdeutschen. Auch in Ermangelung einer starken, konsequent linken Interessenvertretung gelingt es der AfD zunehmend, Enttäuschte einzufangen. Die westlichen Eliten beeilen sich, das als östlich geprägte Demokratieverdrossenheit zu etikettieren, obwohl sie wissen, dass fast alle tonangebenden AfD-Demagogen Westpflanzen sind.

Oschmann plädiert für das Recht jeder Gruppe, sich ihre Identität nicht zuschreiben zu lassen. Die Selbstbehauptung des Ostens verlange indes, aus der Schmuddelecke herauszufinden, „in die ihn der Westen zur Sicherung des eigenen Wohlbefindens erfolgreich verbannt hat“. Aber wie? Am besten geht das natürlich in geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Aber das braucht Zeit. Kämpfen für das, was werden muss, heißt auch, niederkartätschte brauchbare Argumente erlebter Geschichte wiederzubeleben. Erzählen, wie östliches Leben in all seinen Facetten wirklich war. Da werden im Lorbeer Dornen sein und im Glück des Alltags Trauer um Versagtes oder Preisgegebenes. Aber Erzählen befreit, und das geschieht gerade auf verschiedenartige, durchaus kontroverse Weise. Biografische Aufschlüsse, Dispute über Werte, Denk- und Lebensweisen, Fachdebatten über alte Lösungen für neu gekeimte Probleme, Diskussionen über die Bereicherung der deutschen Nationalkultur durch Zuwächse aus der DDR-Kunst und natürlich aufgeweckte Leserzuschriften zu alledem, die das Denkniveau der bürgerlichen Presse oft überragen, stoßen auf wachsendes Interesse. Wie überfällig dieses Nach-Denken über die deutsche Republik zwischen Elbe und Oder samt ihren Plänen einer neuen Gesellschaft, über ihren Aufbau und die Gründe ihres Niedergangs war, zeigt der aktuelle Diskussionseifer. Es ist, als erinnere man sich dabei auch der verpassten Möglichkeiten, die der Grundgesetzartikel 146 geboten hätte, wäre er nicht wegen befürchteter „Ostspinnereien“ von den westlichen Einheitsrittern verworfen worden.


Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
Ullstein, Hardcover, 224 Seiten, 19,99 Euro


✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Verwertung des Ostens", UZ vom 4. August 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit