Wie wollen wir arbeiten? Wie wollen wir leben?

Von nh

Im Wahljahr 2017 hat die IG Metall zwischen Mitte Januar und Ende Februar in mehr als 7 000 Handwerks-, Dienstleistungs-, und Industriebetrieben Beschäftigte über ihre persönliche Arbeitssituation sowie über politische Themen befragt. Insgesamt haben sich 681 241 Kolleginnen und Kollegen an der Befragung beteiligt. Jeder dritte ausgefüllte Fragebogen kam von Nichtgewerkschaftsmitgliedern. „Die Zahl übertraf alle Erwartungen“, schreibt die IGM auf ihrer Internetseite. Die Auswertung des Teils zur Arbeitszeitproblematik soll Mitte Mai vorliegen.

Auch wenn einige Fragen fehlten (so zur Leiharbeit, obgleich der Fragebogen auch in Betrieben mit Leiharbeit vorlag) und wie bei allen Umfragen genau geschaut werden sollte, wie „zielgerichtet“ die Fragen formuliert sind: Es ergibt sich ein wichtiges Bild über Einstellungen, Haltungen und Wünsche unter den Kolleginnen und Kollegen.

Viele der Befragten „empfinden mehr Unsicherheit, zunehmende Ungleichheit und wachsende Fremdbestimmung“. Zwar ist die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz im Vergleich zur Befragung im Jahr 2013 leicht gesunken. Aber immer noch hat etwa ein Drittel der Befragten große Ängste. So der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann bei der Vorstellung der Befragungsergebnisse am 25. April in Berlin.

2013 bezeichneten 88 Prozent der Befragten einen unbefristeten Arbeitsvertrag als „sehr wichtig“, 83 Prozent ein verlässliches Einkommen. Laut der Ergebnisse der aktuellen Umfrage legen jetzt 93 Prozent Wert auf Sicherheit und berufliche Perspektiven. Allerdings sind hier die Ergebnisse beider Umfragen nur bedingt vergleichbar: 2013 lautete die Frage wie wichtig den einzelnen Befragten ein unbefristeter Arbeitsvertrag sei, jetzt nach der „Sicherheit und beruflichen Perspektive in der Industrie 4.0 für alle“.

Wie die Ergebnisse der aktuellen Umfrage zeigen, gibt es – erwartbar – zudem viel Unsicherheit im Zusammenhang mit der Rente. Auch bei der Alterssicherung spüren die Beschäftigten persönliche Nöte: „Das Niveau der gemeinsam von Beschäftigten und Arbeitgebern bezahlten Rentenversicherung sinkt. Darüber hinaus hat die Politik auch hier die Arbeitgeber aus der Verantwortung entlassen: Die Beschäftigten sollen zunehmend privat ihre Altersvorsorge finanzieren. Genau das wollen sie aber nicht. 87 Prozent der Befragten sagen, private Vorsorge könne die Lücke nicht schließen, die durch die Absenkung des Rentenniveaus droht.

Die Befragten wissen: Verlässliche Alterseinkommen gibt es nur mit der gesetzlichen Rentenversicherung. Mehr als vier von fünf Befragten wollen bessere Renten.

Sie wären sogar zu höheren Beiträgen bereit …“ – Allerdings fordern 93 Prozent der Befragten auch, dass alle Beschäftigten eine arbeitgeberfinanzierte Betriebsrente erhalten sollen. (Vgl. Politik für Alle – sicher, gerecht und selbstbestimmt. Zahlen und Hintergründe zur Beschäftigtenbefragung 2017 – die Broschüre kann als PDF-Datei von der Internetseite der IG Metall heruntergeladen werden)

Eine Mehrheit von 93 Prozent fordert eine Bildungspolitik, die Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft eröffne und „verbrieftes Recht jedes Beschäftigten auf betriebliche Weiterbildung garantiere“, so Hofmann. Gleiche Teilhabechancen bedeuteten auch, dass die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen nicht in eine berufliche Sackgasse führen dürften. 92 Prozent setzten das Thema Vereinbarkeit ganz oben auf die Agenda, so der IG Metall-Chef bei der Vorstellung der Umfrageergebnisse.

Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten will laut der Befragung auch in einer zusehends digitalisierten Arbeitswelt starke Arbeitszeitregeln – „mit Ruhezeiten, mit einem Recht auf Abschalten“. „Sie erteilen der Arbeit ohne Ende eine klare Absage. Stattdessen erwarten sie von der Politik einen festen Rahmen gegen ausufernde Arbeitszeiten und Grenzen für die von Unternehmen geforderte Flexibilität – und das über alle Branchen und Altersgruppen hinweg“. Damit haben über 96 Prozent der Befragten dem Wunsch der Arbeitgeberverbände Gesamtmetall und BDA widersprochen, Höchstgrenzen und feste Ruhezeiten nicht mehr im Gesetz zu regeln.

Laut Umfrage ist für 92 Prozent der Anspruch auf tarifliche Bezahlung und die Verhinderung von Tarifflucht zum Beispiel bei Auslagerungen wichtig oder sehr wichtig. Gleichen Zugang zur beruflichen Entwicklung und gleiches Einkommen für Männer und Frauen wollten 89 Prozent der befragten Männer und 98 Prozent der befragten Frauen.

In einem Interview auf der Internetseite der IGM machte Jörg Hofmann aber auch deutlich: „Jüngere Menschen schätzen solidarische Regelungen wie etwa eine Steuerpolitik, die umverteilt, weniger als ältere. Beschäftigten mit höheren Einkommen sind sie weniger wichtig als jenen mit einem geringen Einkommen. Individuelle Ansprüche wie das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit oder berufliche Fortbildung sind aber allen wichtig, unabhängig von Alter und Einkommen. Unsere Aufgabe ist es, den Wert solidarischer Lösungen wieder allen deutlich zu machen.“

Immerhin wollen 77 Prozent mehr „Verteilungsgerechtigkeit“ durch eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen, hoher Vermögen und großer Erbschaften.

Wie IG Metall-Chef Jörg Hofmann am 25. April in Berlin erklärte, sei das Ergebnis der Befragung vor der Bundestagswahl im Herbst eine „klare Ansage an die Politik“. Der Studie zufolge ist für knapp zwei Drittel der Befragten „die faire Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt“ ein wichtiges Thema. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass sich diejenigen Beschäftigen, die selbst um ihren Job fürchten, mit dieser Frage schwerer täten, so Hofmann.

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"Wie wollen wir arbeiten? Wie wollen wir leben?", UZ vom 5. Mai 2017



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