Über Widersprüche in der deutschen Außenpolitik

Zeitenwende – böses Ende

Am 27. Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Bundestages die „Zeitenwende“. Ein knappes Jahr später, am 13. Januar 2023, verabschiedete die SPD-Bundestagsfraktion auf einer Klausurtagung das Positionspapier „Sozialdemokratische internationale Politik in der Zeitenwende“. In ihm bekunden die Autoren Solidarität mit dem Kiewer Regime. Es macht aber auch Widersprüche in der deutschen Außenpolitik und besonders im Verhältnis Deutschlands zu Russland sichtbar.

Es wurde veröffentlicht, nachdem das Bundeskanzleramt im Dezember 2022 den Entwurf einer „Nationalen Sicherheitsstrategie“ des von Annalena Baerbock geleiteten Auswärtigen Amtes verworfen hatte. Die Ausarbeitung war im Koalitionsvertrag vereinbart worden, entspreche aber nicht den derzeitigen Anforderungen.

Alle Rohre gegen Russland

Die Tätigkeit der von der SPD geführten Regierung unter Scholz war im vergangenen Jahr durch den Ukraine-Krieg geprägt. Alle sprachen nur von Waffenlieferungen an die Ukraine, Ausbildung ukrainischer Soldaten, Sanktionen gegenüber Russland, Hilfspaketen für das ukrainische Regime und Aufrüstung der Bundeswehr – Frieden stand nicht zur Debatte. Ideologisch garniert mit viel Russenhass, wurde „Putin“ die alleinige Schuld am Krieg und den sozialen Folgen der Sanktionspolitik für Bevölkerung und Unternehmen zugeschoben. Zugespitzt wurde immer wieder von Deutschlands Oberdiplomatin, Außenministerin Baerbock – zuletzt in ihrer Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates: „Wir führen Krieg gegen Russland.“

Der durch die Ukraine aufgebaute politische Druck, wesentlich orchestriert von den USA und willfährig verbreitet von den deutschen Einheitsmedien, hat in der Öffentlichkeit das Bild erzeugt, als wäre der Sieg der Ukraine über Russland die einzige Frage der deutschen Außenpolitik.

Innerhalb der SPD wird diese Politik vor allem vom Seeheimer Kreis – prominentes Mitglied: Lars Klingbeil, Ko-Vorsitzender der Partei – vorangetrieben. Das hat nicht nur eine weitere Militarisierung sozialdemokratischer Politik eingeleitet.

Die SPD hat ihre wichtigste außenpolitische Leistung nach dem Zweiten Weltkrieg – ihren Beitrag zur Entspannungs- und Verständigungspolitik in Europa – auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Bis zuletzt galt die SPD noch bei vielen Menschen in Deutschland und darüber hinaus als eine Partei der Entspannung – trotz ihrer Beteiligung an der Aggression gegen Jugoslawien.

Widerspruchsvolle Partnerschaft

Offiziellen Aussagen zufolge decken sich die Ziele Deutschlands und der Ukraine. Es gehe um die Verteidigung der „Freiheit“ – sowohl die der Ukraine als auch die Europas. Verhandlungen seien mit Russland nicht möglich, deshalb müsse es auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Frieden ist wiederum kein Thema.

Es gehe darum, „Russland zu ruinieren“, formulierte Baerbock im Zusammenhang mit den völkerrechtswidrigen Sanktionen gegen Russland – und gab damit die eigentlichen Ziele preis. Im Bündnis mit den USA und den anderen NATO- und EU-Mächten strebt Deutschland eine strategische Niederlage Russlands an, die dessen Staatlichkeit infrage stellen soll. Damit wiederholt es den größten Fehler seiner Geschichte – die Vertreter des deutschen Kapitals sind nicht bereit, aus deren Verlauf entsprechende Lehren zu ziehen.

Um die Gefahren abzufangen, die für Deutschland und EU-Europa aus dieser Politik entstehen, soll die Ukraine zu einer Pufferzone zwischen EU-Europa und Russland werden. Das war und ist auch weiterhin ein Motiv der Osterweiterung der NATO und der EU. Darin ist man sich in Berlin mit den USA einig.

Im Gegensatz zu den USA will Deutschland die Ukraine nutzen, um seine eigene Position gegen Russland und in ganz Europa auszubauen. Darauf aufbauend soll Deutschland zu einem bestimmenden Faktor der internationalen Politik werden, der neben wirtschaftlicher Stärke auch militärische Durchsetzungsmacht hat.

Es geht um alte Ziele des deutschen Monopolkapitals. Der Kampf um die Ukraine ist Bestandteil des deutschen Weges von einer „Gestaltungsmacht im Wartestand“ zu einer „Führungsmacht in der EU“ und in Europa und jetzt – mit der „Zeitenwende“ – zu einer „Führungsmacht in den internationalen Beziehungen“.

An der Rolle einer Pufferzone ist aber die Ukraine nicht interessiert. Sie will zu einer eigenständigen antirussischen Bastion und zu einer Regionalmacht aufsteigen, die aufgrund ihrer geografischen Lage zu einer zentralen Achse der Anti-Russland-Politik der USA und der NATO avanciert. Hieraus entstehen auch Widersprüche im Verhältnis zwischen Berlin und Kiew, die auf das Handeln Deutschlands wirken.

Positionen sind noch keine Politik

Von einer von derartigen Zielen bestimmten Außenpolitik distanziert sich das oben erwähnte Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion überhaupt nicht. Im Unterschied zu dem vom Ko-Vorsitzenden Klingbeil geprägten Dokument der „Kommission Internationale Politik“ der SPD vom 20. Januar 2023 mit dem Titel „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ enthält das Positionspapier aber immerhin noch einen Rest Realitätssinn, indem es auf die Notwendigkeit hinweist, dass mit Russland „diplomatische Gespräche möglich bleiben“ müssen.

Das zeigt, dass die Bundestagsfraktion der SPD den von der Mitgliedschaft und Teilen der Wählerschaft ausgeübten Druck berücksichtigen muss. Reste der Erinnerung an die von Egon Bahr und Willy Brandt nach der Sicherung der Staatsgrenze der DDR am 13. August 1961 entwickelten Friedens- und Entspannungspolitik sind nicht nur in der älteren SPD-Mitgliedschaft noch vorhanden.

Im Positionspapier weist die Fraktion darauf hin, dass „eine Politik der kleinen Schritte, die in überschaubaren Bereichen Initiativen zur Vertrauensbildung startet und regelmäßig auf ihre Wirksamkeit überprüft wird, ein diplomatischer Ansatz sein“ könnte. Auf lange Sicht werde Russland „für die Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur relevant sein“.

Das bleibt zwar hinter früheren Erkenntnissen zurück, kann aber einen Ansatz bilden: Es ist noch gar nicht lange her, da forderte die SPD: „Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben.“ Das stand in ihrem Wahlprogramm von 2021, auf dessen Grundlage die jetzige Regierung gewählt wurde.

Klärungsbedarf ist vorhanden

Wohin die Reise geht, wird sich Ende dieses Jahres zeigen. Ein Parteitag der SPD soll ein neues außen- und sicherheitspolitisches Konzept beschließen. Das Dokument „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ lässt nichts Gutes hoffen. Es dokumentiert ein Programm militaristischer Positionen, das von drei Grundpfeilern getragen wird: Führungsrolle Deutschlands in der Welt, nicht nur in Europa, Militarisierung als Mittel der „Friedenspolitik“ und Feindschaft zu Russland.

Mitautor Klingbeil, ein Vorreiter des Militärischen, erklärte zum Beispiel in seiner Rede zur „Zeitenwende“, es sei für Deutschland notwendig, „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“ zu konzipieren. Dies soll unter dem Gesichtspunkt erfolgen, dass Deutschland „den Anspruch einer Führungsmacht haben“ muss.

Unbedingt beachten muss man, dass Klingbeil dies nicht nur auf Europa, sondern auf das „internationale Koordinatensystem“ bezieht. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“ ist.

Das provoziert durchaus die Befürchtung, dass der Parteitag zu einer Konzeption veranlasst werden soll, deren grundlegender Bezug der zu Macht und Gewalt ist – keine Konzeption, die auf kollektive Sicherheit, auf Frieden sowie auf Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zwischen souveränen und gleichberechtigten Staaten ausgerichtet ist. Eine weitere Absage an die von Brandt verfolgte Politik – auch wenn das Gegenteil versichert wird!

Streit um Außenpolitik

Im Koalitionsvertrag hat die Regierung die Erarbeitung einer „Nationalen Sicherheitsstrategie“ angekündigt, die im Februar 2023 vorgelegt werden sollte. Federführend war das Auswärtige Amt.

In der Zwischenzeit stellte sich heraus, dass die Widersprüche zwischen Bundeskanzler und Außenministerin über den Inhalt dieser Strategie so groß geworden sind, dass es nicht möglich war, sich auf die Formulierung gemeinsamer Standpunkte in grundlegenden Fragen zu einigen.

Das war schon zu Beginn von Baer–bocks Tätigkeit im neuen Amt abzusehen. Bekanntlich trompetete sie: „Ich verstehe Außenpolitik als Weltinnenpolitik.“

Leider wird die Gefährlichkeit dieser Aussage verharmlost. In Wirklichkeit ist sie ein deutlicher Hinweis darauf, dass Baerbock Anhängerin einer Theorie ist, die von US-amerikanischen Thinktanks zur Fortführung und Rechtfertigung der Hegemonialpolitik der USA fabriziert wurde.

Zugleich wird sichtbar, dass es dabei nicht um persönliche Widersprüche oder um stilistische Unterschiede geht, wie dies gerne in den Medien dargestellt wird. Es geht vielmehr um grundsätzliche Einschätzungen der globalen und regionalen Verhältnisse und um Fragen der strategischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik.

Laut Pressemeldungen betreffen die Vorbehalte des Bundeskanzleramtes gegen den Baerbock-Entwurf einer „Nationalen Sicherheitsstrategie“ rund 30 Einzelpunkte.

Von zentraler Bedeutung ist dabei die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Deutschland und China. Die Reise von Scholz nach Peking wurde nicht nur von der Außenministerin und den Grünen kritisiert. Sie widersprach der aktuellen US-amerikanischen Politik gegenüber China, die auch von Baerbock vertreten wird. Die Kritik der Außenministerin an der Scholz-Reise offenbart somit ihre ablehnende Haltung zu zentralen außenpolitischen Positionen des Bundeskanzlers. Sie weist zunehmend auf Abgrenzungen hin.

Seit Antritt der gegenwärtigen Regierung sind beträchtliche Widersprüche auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Bereichen aufgetreten. Sie erfassen entscheidende Kreise, deren Miteinander oder Gegenein­ander ausschlaggebend für die Stabilität dieser Regierung und für die Berechenbarkeit ihrer Politik sind. Dazu gehören:

  • Widersprüche zwischen Bundeskanzleramt, Teilen der SPD-Bundestagsfraktion und dem Seeheimer Kreis, prominent vertreten durch Klingbeil;
  • Widersprüche zwischen Bundeskanzler und Außenministerin;
  • Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern SPD/Grüne und auch zwischen Grünen und FDP.

An erster Stelle bleibt die Macht

Nach einem Jahr ist eine Situation entstanden, in der die Koalition zwar noch nicht akut gefährdet ist, aber die Widersprüche aufzubrechen beginnen. Geht der Prozess so weiter, erodieren Stabilität und Handlungsfähigkeit dieser Koalition.

Auf jeden Fall dürfte Scholz darauf bestehen, dass das Bundeskanzleramt das letzte Wort in den Fragen der Beziehungen Deutschlands zu Russland und China sowie in der Europapolitik hat. Aber auf welcher Grundlage? Auf der Grundlage der Vorstellungen der SPD-Bundestagsfraktion oder auf der Grundlage der Positionen, die im Dokument der „Kommission Internationale Politik“ beschrieben werden?

Scholz hat sein Credo auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ 2022, wenige Tage vor Beginn des Ukraine-Krieges, so formuliert: „Die Europäische Union ist unser Handlungsrahmen, unsere Chance. ‚Macht unter Mächten‘ zu bleiben, darum geht es, wenn wir von ‚europäischer Souveränität‘ reden. Drei Dinge braucht es auf dem Weg dorthin: Erstens den Willen, als ‚Macht unter Mächten‘ zu handeln, zweitens gemeinsame strategische Ziele und drittens die Fähigkeiten, diese Ziele zu erreichen. An allem arbeiten wir.“

Für eine friedliche Zukunft dürfen wir also nicht auf den Bundeskanzler hoffen.

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"Zeitenwende – böses Ende", UZ vom 10. Februar 2023



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