Immer weniger Beschäftigte sind durch Tarifverträge geschützt. Der DGB will das ändern, Kapital und Politik nicht

Zersplittert

Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“ lautete in diesem Jahr das Motto zum 1. Mai, dem internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung. Ein zentrales Instrument zur Durchsetzung dieser Forderungen sieht der DGB in der Stärkung der Tarifbindung. Allerdings ist diese in Deutschland seit den 1990er Jahren massiv zurückgegangen. Waren 1995 noch mehr als 80 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt, ist es heute gerade noch etwa die Hälfte. Nur noch jeder vierte Betrieb ist an einen Tarifvertrag gebunden.

Ein erster wichtiger Schritt, dieser fatalen Entwicklung entgegenzuwirken, wäre, das im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbarte Tariftreuegesetz endlich umzusetzen, wonach öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden dürfen. Was darüber hinaus notwendig ist, haben Florian Rödl, Felix Syrovatka und Johanna Wolff in ihrem lesenswerten Beitrag „Zukunft der Tarifautonomie, Aktionsplan für eine Rückkehr zu flächendeckender Tarifbindung“ in der „Zeits chrift für Rechtspolitik“ beschrieben.

Aktuell haben es Unternehmer sehr leicht, sich der Tarifbindung zu entziehen. Zuerst erfolgt der Austritt aus dem Arbeitgeberverband oder die Veräußerung eines Betriebsteils. Anschließend können neue Arbeitsverhältnisse zu untertariflichen Bedingungen begründet und Tarifverträge durch geänderte Arbeitsverträge unterlaufen werden. Änderungen im Tarifvertragsgesetz könnten dem einen Riegel vorschieben und so die Nachwirkung von Tarifverträgen gestärkt werden. Im Kern geht es darum, zu verhindern, dass tarifvertragliche Regelungen durch individuelle Vereinbarungen ersetzt werden, so die Autoren der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie. Auch neu begründete Arbeitsverhältnisse sollten den bestehenden Rechtsnormen unterliegen. Nach Ablauf eines Tarifvertrages sollten seine Rechtsnormen weiter gelten, bis sie durch einen anderen Tarifvertrag abgelöst werden. Zumindest in den tariflichen Kernbereichen ist dann immer eine tarifliche Nachfolgeregelung erforderlich – auch bei einem Betriebsübergang auf einen neuen Eigentümer.

Zur weiteren Zersplitterung des Tarifvertragssystems tragen sogenannte OT-Mitgliedschaften bei. Dies bedeutet, dass zahlreiche Kapitalverbände Unternehmen ermöglichen, Mitglied zu werden, ohne sich an die vereinbarten Tarifverträge halten zu müssen. Daher sollte – nach Meinung der Autoren – im Gesetz klargestellt werden, dass alle Mitglieder der Tarifvertragsparteien – also Gewerkschaften, einzelne Unternehmer und Kapitalverbände – die vereinbarten Regelungen einhalten müssen.

Ein weiteres Problem ist, dass Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) aktuell nicht durchsetzbar sind, wenn die Kapitalseite ihre Zustimmung verweigert. AVE könnten bewirken, dass die von Gewerkschaften und Kapitalverbänden ausgehandelten Regelungen auch für alle nicht tarifgebundenen Betriebe der jeweiligen Branche gelten. Um die Durchsetzung zu erleichtern, sollte – nach Auffassung der Wissenschaftler – ein Tarifvertrag künftig auf Antrag einer Tarifvertragspartei durch Verwaltungsakt für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten erscheint und ein paritätisch besetzter Tarifausschuss nicht widerspricht. Darüber hinaus sollten Tarifverträge, die spezifische Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder enthalten, im Tarifvertragsgesetz ausdrücklich anerkannt werden.

Deutschland muss bis November – wie alle EU-Mitgliedstaaten, in denen weniger als 80 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge geschützt sind – einen „Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung“ vorlegen. Dies sieht die „Europäische Richtlinie zu Mindestlöhnen und Tarifbindung“ vor. Eigentlich eine gute Gelegenheit, die Vorschläge der Wissenschaftler der HBS aufzugreifen und so wirksame Maßnahmen im Interesse der Lohnabhängigen umzusetzen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Berliner Koalitionäre wieder nur Placebos verteilen. So bleibt auch in Zukunft Tarifflucht ein äußerst profitables Geschäftsmodell.

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"Zersplittert", UZ vom 3. Mai 2024



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