Marxisten sollten sich mit Militärstrategie beschäftigen. Den Anfang machte Friedrich Engels

Der General

In der „Neuen Rheinischen Zeitung“, in der linke Revolutionäre unter Leitung ihres Chefredakteurs Karl Marx über die aufwühlenden Ereignisse der Jahre 1848/49 berichteten und sie kommentierten, erschien am 17. Mai 1849 die Notiz, dass am 10. Mai „Friedrich Engels, Redakteur der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘, von Köln nach Elberfeld“ gegangen sei und „von Solingen aus zwei Kisten Patronen“ mitgenommen hätte, „welche beim Sturm des Gräfrather Zeughauses durch die Solinger Arbeiter erbeutet worden waren“. In Elberfeld angekommen, stellte er sich dem dortigen „Sicherheitsausschuss“ zur Verfügung, der ihn sofort beauftragte, „sämtliche Barrikaden der Stadt zu inspizieren und die Befestigungen zu vervollständigen“. Schon einen Tag später wurde ihm die gesamte Artillerie der Aufständischen unterstellt. Er selbst hatte sich den Aufständischen mit dem Hinweis zur Verfügung gestellt, er sei unter anderem hier, weil er „in militärischer Beziehung vielleicht nützlich verwandt werden könne“.

Engels war also, das erhellt diese Textstelle, nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch der Tat. Sie erhellt zweitens, dass weder er noch die in seiner und Marxens Tradition stehenden Menschen Pazifisten waren, also grundsätzliche Gegner jeder Anwendung von Gewalt. Sie sind es auch heute nicht.

Frühes Interesse

Der im November 1820 in Barmen, einem Nachbarort Elberfelds, geborene Engels hatte sich für geschichtliche und militärische Fragen schon während seiner Schulzeit stark interessiert. Mit 21 Jahren trat er einen einjährigen Militärdienst an und wurde zum Artilleristen ausgebildet, an der damals technisch fortschrittlichsten Waffengattung. Nach der 1848er-Revolution nahm er von Elberfeld aus teil an den Anfang Mai 1849 beginnenden Aufständen zum Schutz der gesamtdeutschen Verfassung. Nach der Niederschlagung dieser Aufstände intensivierte Engels seine militärtheoretischen und -praktischen Studien und bekam, inzwischen mit Marx zusammen ins britische Exil gezwungen, von seinen Freunden den Spitznamen „General“ verpasst.

Zwischen ihm und Marx bestand zwar eine Arbeitsteilung hinsichtlich der jeweiligen Forschungsschwerpunkte, zu der gehörte, dass Marx die Behandlung militärischer Fragen weitgehend ihm überließ. Inhaltlich aber gab es in dieser Frage keine Differenzen zwischen den beiden. Schon in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ hatte Marx angemerkt: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt (…)“.

4308 Schlacht bei Kandern 1848 - Der General - Der General, Friedrich Engels, Karl Marx, Militär, Militärstrategie - Theorie & Geschichte
Im April 1848 gelingt es badischen und Pfälzer Aufständischen in der Schlacht bei Kandern den gegnerischen General zu töten. Nach seiner Beteiligung am Elberfelder Aufstand im Mai 1849 schließt sich Engels der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee an. (Foto: Publik Domain)

Zu den gemeinsamen Überzeugungen beider gehörte die Abscheu gegenüber der Gewaltherrschaft des Kapitals, das bluttriefend zur bis heute anhaltenden Weltherrschaft gekommen war und dessen Herrschaft aus ihrer Sicht auch deshalb überwunden werden musste, weil für sie eine Abschaffung der Kriege ohne Abschaffung des Kapitalismus undenkbar war. Sie waren erbitterte Gegner des preußischen Militarismus, dessen Entwicklung sie seit ihren Jugendjahren kritisierten und dessen Ausprägung im deutschen Kaiserreich der alte Engels in seinen letzten Lebensjahrzehnten miterleben musste. Sie waren Pazifisten im Hinblick auf das Ziel einer Welt ohne Armeen und Militär, sahen aber, dass dieses Ziel ein schöner Traum bleibt, solange nicht das Privateigentum an Produktionsmitteln und damit verknüpft die auf Profitmaximierung basierende Tausch- und Geldwirtschaft aufgehoben und durch eine Gesellschaft ohne Privateigentum, mit Planwirtschaft ersetzt worden sein wird.

Kein Schematismus

Engels‘ Verdienst bestand in militärischen Fragen unter anderem darin, dass er keinerlei Schematismus und vor allem keinerlei Abtrennung militärischer von gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen zuließ. Den damaligen Autoren des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ist auch mit Blick auf die heutige Bewertung der Arbeiten von Engels durchaus zuzustimmen, als sie in den 1960er-Jahren resümierten: „Ein großes Verdienst Engels‘ ist es, dass er als erster zum Studium der Kriegsgeschichte und zur Analyse der Armeen seiner Zeit die einzige wissenschaftliche Methode, die Methode des dialektischen und historischen Materialismus, anwandte. Zum Unterschied von den bürgerlichen idealistischen Historikern, die nicht imstande waren, die Entwicklung der bewaffneten Streitkräfte als einen gesetzmäßigen Prozess darzustellen, zeigte Engels, dass diese Entwicklung, wie auch andere gesellschaftliche Erscheinungen, in letzter Instanz bestimmt wird durch die Veränderung in der materiellen Produktionsweise, die die ökonomische Basis der Gesellschaft bildet.“

Als sich Engels auf Drängen seiner Genossen in seinen späteren Lebensjahren entschied, seinen „Anti-Dühring“ zu schreiben, in dem er auf dem gemeinsamen Wirken mit Marx beruhende grundlegende Erkenntnisse gegen den in der SPD aufkommenden Reformismus verteidigte, widmete er, Eugen Dühring (ver)folgend, militärischen Fragen großen Raum und stellte bei aller Anerkennung des Faktors der Moral der Kämpfenden im Kriege fest: „Also der Revolver siegt über den Degen, und damit wird es doch wohl auch dem kindlichsten Axiomatiker begreiflich sein, dass die Gewalt kein bloßer Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommenere das unvollkommenere überwindet; dass ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, dass der Produzent vollkommenerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten der unvollkommeneren besiegt, und dass, mit einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also – auf der ‚ökonomischen Macht‘, auf der ‚Wirtschaftslage‘, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln.“

Gewalt, materialistisch

Engels verfolgte die Entwicklung der materiellen Grundlagen der Gewalt und ihrer Materialisierung im Kriege kontinuierlich während seines ganzen Lebens, das ihm nolens volens reichlich Material für diese Studien bot. Er analysierte und kommentierte nicht nur die militärischen Entwicklungen während der 1848/49er-Revolution in Deutschland, sondern unter anderen auch die des Krimkrieges (1853 bis 1856), des nordamerikanischen Bürgerkrieges (1861 bis 1865) und des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71.

Er thematisierte auch die Auswirkungen der Veränderungen der technischen Basis des Krieges auf die Frage der revolutionären Strategie und Taktik und stellte in einer 1895 verfassten Einleitung zu Marxens Schrift über die „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ angesichts der Entwicklung vor allem der Artillerie fest: „Heißt das, dass in Zukunft der Straßenkampf keine Rolle mehr spielen wird? Durchaus nicht. Es heißt nur, dass die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese werden dann wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolution, am 4. September und 31. Oktober 1870 in Paris den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.“

Illusionen über Technik

Die Veränderungen der technischen Grundlagen der Gewalt haben immer wieder die Hoffnung geweckt, allein durch den Umfang und das Grauen der massenhaften maschinellen Zerstörung menschlichen Lebens werde die Gewaltfrage gelöst. So ging etwa Alfred Nobel selbst davon aus, seine Entdeckung des Dynamits würde Kriege so verändern, dass sie in Zukunft nicht mehr geführt würden. Nach den Abwürfen zweier Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 durch die US-amerikanische Luftwaffe hielten viele – auch im westlich geprägten Marxismus – die intensive Befassung mit militärischen Fragen für überholt, weil Krieg nach Hiroshima nicht mehr führbar wäre. Das hat sich schon im Koreakrieg in den 1950er-Jahren und noch mehr im langen und blutigen Krieg, den die USA ab Mitte der 1960er-Jahre bis weit in die 1970er-Jahre in Vietnam führten, als Illusion herausgestellt. Unsere Gegenwart bekräftigt die Notwendigkeit, sich vom marxistischen Standpunkt aus mit militärischen Fragen auch unter den Bedingungen nuklearer Bewaffnung der kriegführenden Mächte mit Engelsscher Sorgfalt, Nüchternheit und humanistischer Entschlossenheit zu befassen, um den Krieg in die Geschichtsbücher zu verbannen.

Engels‘ Einsichten versetzten ihn in die Lage, Prognosen abzugeben, die über seinen eigenen Tod hinauswiesen. So wie die einer drohenden Konfrontation mit Russland aufgrund der ständigen Aufrüstung Preußens: „Tragikomischer Konflikt: der Staat muss politische Kriege führen für entfernte Interessen, die nie nationale Begeisterung erregen, und hat dazu eine Armee nötig, die nur zur nationalen Verteidigung und der daraus unmittelbar folgenden Offensive taugt (1814 und 1870). In diesem Konflikt geht der preußische Staat und die preußische Armee kaputt – wahrscheinlich in einem Krieg mit Russland, der 4 Jahre dauern kann und wo nichts zu holen als Krankheiten und zerschoßne Knochen …“

Angewendet auf unsere heutige Zeit ist – leider – zu unterstreichen, was Kai Köhler am 19. September in der „jungen Welt“ mit Verweis auf Engels formulierte: „Angesichts einer Zukunft, die von Kriegen gezeichnet sein wird, braucht die Linke nicht nur Friedenswissenschaftler, sondern Leute, die militärische Verläufe zu analysieren verstehen.“ Wer sich dieser immer wichtiger werdenden Aufgabe annimmt, beginnt am besten bei Friedrich Engels.

Dieser Text erschien zuerst auf der Website der Marx-Engels-Stiftung: kurzelinks.de/generalengels. Wir haben ihn redaktionell bearbeitet.

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"Der General", UZ vom 28. Oktober 2022



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