Nach dreißig Jahren siegt die kolumbianische UP vor Gericht

Der Staat ist verantwortlich

Am 30. Januar fällte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof ­(IMRGH) sein Urteil im Fall „Mitglieder und Aktivisten der Patriotischen Union gegen die Republik Kolumbien“. Die Patriotische Union war nach ihrer Gründung im Mai 1985 Opfer eines politisch motivierten Genozids geworden; je nach Zählung zwischen 4.500 und 6.000 ihrer Mitglieder wurden von staatlichen und parastaatlichen Mördern getötet. Tausende wurden innerhalb des Landes vertrieben oder ins Exil gezwungen.

Am 16. Dezember 1993 hatte die UP den Staat nach zahllosen Morden und wegen des bekannt gewordenen Plans „Gnadenschuss“ vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission angezeigt. Dieser war von Paramilitärs aus Puerto Boyacá durchgeführt und von hohen Militärs angeleitet worden.

Die Interamerikanische Menschenrechtskommission war im Mai 2018 zu dem Ergebnis gekommen, dass der kolumbianische Staat Verantwortung trägt und hatte den Fall an den IMRGH weitergegeben, wo Ende Juni 2018 der Prozess begann. Alle fünf Richter des IMRGH schlossen sich nach viereinhalb Jahren der Auffassung an: „Die Republik Kolumbien ist verantwortlich für den Versuch der Auslöschung der Patriotischen Union.“ Das Ergebnis des Gerichtsentscheids wurde im „Zentrum der Erinnerung, des Friedens und der Versöhnung“ in Bogotá mit großer Zustimmung und Freude aufgenommen, wo etwa 400 Angehörige von Ermordeten oder Verschwundenen aus den Reihen der Partei versammelt waren.

Die UP war im Ergebnis von Verhandlungen zwischen den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ (FARC) und der damaligen Regierung unter Präsident Belisario Betancur gegründet worden. Nach einem ab März 1984 aktiven Waffenstillstand zwischen Regierung und verschiedenen Guerillagruppen hatten sich scheinbar neue Möglichkeiten ergeben, dass Guerilleros in das zivile politische Leben eintreten konnten. Mit einer Teildemobilisierung und Waffenabgabe zeigten die FARC ihren guten Willen; im Gegenzug sollte den Demobilisierten ein sicherer Schutz für ein Leben ohne Waffe gegeben werden.

Zur Patriotischen Union hatten sich auch andere Teile der Gesellschaft gesellt, weil die Partei die Ideale der kolumbianischen Linken am besten vertrat. Im März 1986 fanden Wahlen statt, für deren Kampagne die UP nach ihrer offiziellen Zulassung nur vier Monate Zeit hatte. Dennoch erreichte die Partei 15 Sitze in Senat und Kammer, 18 Plätze im Abgeordnetenhaus und 335 kommunale Mandate. Mit diesem Ergebnis durchbrach die UP nach Jahrzehnten als erste Partei die Zweiparteienherrschaft von Konservativen und Liberalen im Andenstaat.

Aber unmittelbar danach begann die Mordserie an UP-Abgeordneten und -Mitgliedern. Wie schon nach verschiedenen Amnestien seit dem Beginn des Bürgerkriegs 1948 entfachte der Staat die Verfolgung der Wehrlosen. Senatoren, Bürgermeister, kommunale Mandatsträger und zwei Präsidentschaftskandidaten wurden meist am Wohnort, in einem Fall sogar während eines Inlandsfluges, erschossen. Die Täter wurden entweder nicht gefasst oder nicht verurteilt.

Die staatliche Verwicklung in die Mordmaschinerie war offensichtlich. Die ehemaligen „Farianos“ wurden als UP-Mitglieder genauso Opfer der staatlichen und der von Großgrundbesitzern ausgehenden Rache wie Menschen, die sich in der Hoffnung auf ein gerechtes Heimatland der Partei angeschlossen hatten, ohne zuvor im bewaffneten Kampf gewesen zu sein. Die 1964 als Antwort auf den bereits eineinhalb Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg mit hunderttausenden Toten gegründeten FARC waren als eine Bauern-Selbstverteidigungsgruppe mit der Kolumbianischen KP vernetzt; viele der Guerilleros waren ursprünglich in der KP oder der Kommunistischen Jugend aktiv. Aus diesem Grund variieren die Opferzahlen: Nicht immer ist klar, wer als KP-, wer als UP- oder wer als Gewerkschaftsmitglied ermordet wurde.

Heute gehört die UP mit zum Regierungsbündnis „Historischer Pakt“. Der Umstand, dass der IMRGH just zu einem Zeitpunkt entschied, an dem die rechten Regierungen für mindestens vier Jahre der Vergangenheit angehören, ist günstig für die Umsetzung von Entschädigungsleistungen, aber auch für einen gesellschaftlichen Aufbruch. Nun geht es mit der linksgerichteten Regierung auch darum, Mechanismen zu schaffen, wie eine Wiederholung eines solchen Genozids an Parteimitgliedern verhindert werden kann.

Dieser Sieg kann gar nicht hoch genug gewertet werden. Erstmals spüren die überlebenden Opfer und Familienangehörigen von Ermordeten oder im Exil gestorbenen UP-Mitgliedern Gerechtigkeit. Nicht wenige der Binnenvertriebenen wurden anderenorts zu Bettlern, nachdem sie zuvor eine kleine Finca ihr Eigen nennen konnten.

Es geht aber neben einer materiellen Entschädigung auch um eine politische Festlegung. Denn der kolumbianische Staat hat immer behauptet, es habe nie eine bewusste Entscheidung hinter der Auslöschung der UP gegeben. Täter seien die Paramilitärs gewesen, mit denen man nichts zu schaffen gehabt habe. Eine Durchdringung des Paramilitarismus mit staatlichen Kräften und umgekehrt ist hingegen nachgewiesen – sei es durch Bezahlung, Waffenübergabe oder Informationsweitergabe. Zwar gab der Staat eine Verantwortung bei gut 200 Todesfällen zu; allerdings nur durch „Nichtwahrnehmung eines effektiven Schutzes“, nicht etwa als Täter. Dieses minimale Teilgeständnis reichte den IMRGH-Richtern nicht. Sie fordern neben der Einführung eines nationalen Gedenktages für die UP-Opfer in zwanzig Punkten die Republik Kolumbien unter anderem auf, im Land das Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf politische Teilhabe und auf Wahrheit umzusetzen.

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"Der Staat ist verantwortlich", UZ vom 3. März 2023



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