Das Istanbul-Kommuniqué vom 29. März 2022

Der vereitelte Waffenstillstand

Kolumne

Zu den historischen Tatsachen, über die die NATO-Medien schweigen, gehören die Friedensverhandlungen zwischen der ukrainischen und der russischen Regierung im Frühjahr 2022 in Belarus und Istanbul. Ergebnis war ein nahezu unterschriftsreifer Vertragsentwurf, das Istanbuler Kommuniqué. Nach Boris Johnsons Blitzbesuch in Kiew am 9. April 2022 verschwand es in der Versenkung. Ab dem 2. April 2022 prägte das „Massaker von Butscha“ die westlichen Kriegsberichte. Man hängte es russischen Streitkräften an. Eine unabhängige Untersuchung gab es nicht. Verhandlungen mit dem „Verbrecher Putin“ waren von da an tabuisiert.

Im Februar 2023 erinnerte ein Interview des früheren israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennet an das Istanbul-Abkommen. Selenski habe Bennet Anfang März 2022 gebeten, Verhandlungen mit Putin zu vermitteln. Beide Seiten seien zu großen Zugeständnissen bereit gewesen. Ein Waffenstillstand schien greifbar nahe. Laut Bennet beendeten Großbritannien und die USA den Prozess. Gerhard Schröder, den Selenski parallel um Vermittlung bat, sagte der „Berliner Zeitung“, am Ende sei nichts passiert. „Mein Eindruck: Es konnte nichts passieren, denn alles Weitere wurde in Washington entschieden“. (22. Oktober 2023) Im Juni 2023 zeigte Putin das Istanbuler Kommuniqué der Friedensdelegation afrikanischer Staaten.

Beate Landefeld
Beate Landefeld

Im Oktober 2023 legten der frühere NATO-General Harald Kujat, der frühere UN-Diplomat Michael von der Schulenburg und der emeritierte Politikwissenschaftler Hajo Funke eine Rekonstruktion des Ablaufs der Verhandlungen auf Basis des bis dahin veröffentlichten Materials vor. Sie enthält eine deutsche Übersetzung des Kommuniqués. Die 10 Punkte sahen für die Ukraine unter anderem dauerhafte Neutralität, Blockfreiheit und Atomwaffenverzicht vor – gegen den Truppenabzug Russlands und Sicherheitsgarantien durch Russland, China und westliche Staaten. Die Garantien erstreckten sich nicht auf die Krim und den Donbass, deren Status wie vor dem 24. Februar 2022 umstritten blieb.

Laut der Rekonstruktion des Ablaufs beschloss die NATO am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel, die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine nicht zu unterstützen. Selenski verteidigte noch am 27. März das Verhandlungsergebnis öffentlich. Putin zog am 28. März als „vertrauensbildende Maßnahme“ die russischen Truppen aus der Umgebung Kiews ab. Boris Johnson „überzeugte“ Selenski am 9. April im Auftrag der NATO, den Krieg fortzuführen, und versprach die dafür nötigen Waffenlieferungen des Westens.

Ohne Intervention der NATO hätte der Krieg nach fünf Wochen enden können. Zu Beginn der Sanktionen und angesichts ukrainischer Kampfbereitschaft glaubten die NATO- und EU-Strategen jedoch, den Weg für ihre weitere Ostexpansion freischießen zu können. Russland sollte geschwächt und einem Regime Change unterzogen werden. Die Sabotage des Istanbul-Abkommens zeigt, wie zuvor das Scheitern von Minsk und die Verhandlungsverweigerung im Dezember 2021, dass die NATO den Krieg wollte oder nichts tun wollte, um ihn zu vermeiden.

Jetzt droht die Niederlage der Ukraine. Die USA drängen Kiew, über das „Einfrieren“ der Front zu verhandeln. In der Ukraine wachsen Zweifel. David Arachamija, Fraktionsführer der Partei „Diener des Volkes“, in Istanbul im Verhandlungsteam, sagte am 24. November im Fernsehen: „Sie (die Russen) waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir … die Neutralität annehmen und uns verpflichten würden, nicht der NATO beizutreten. Das war … der entscheidende Punkt.“ Oleksij Arestowytsch, Ex-Berater des Präsidentenbüros, nun im Exil, schrieb am 27. November auf X: „Unser Krieg hätte durchaus mit den Istanbuler Abkommen gekrönt werden können und ein paar hunderttausend Menschen wären am Leben geblieben.“ Den danach begonnenen „großen Krieg“ habe die Ukraine nicht gewinnen können.

Die Rekonstruktion des vereitelten Waffenstillstandes gibt es hier: kurzelinks.de/vereitelt

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Über die Autorin

Beate Landefeld (Jahrgang 1944) ist Hotelfachfrau und Autorin.

Landefeld studierte ab 1968 Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität Hamburg, war Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses, Mitbegründerin des MSB Spartakus. 1971-1990 war sie im Parteivorstand der DKP, 1977-1979 Bundesvorsitzende des MSB Spartakus, später auf Bezirks- und Bundesebene Funktionärin der DKP.

Landefeld ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter. 2017 veröffentlichte sie bei PapyRossa in der Reihe Basiswissen das Buch „Revolution“.

Für die UZ schreibt Landefeld eine monatliche Kolumne.

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"Der vereitelte Waffenstillstand", UZ vom 8. Dezember 2023



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