Zum 80. Geburtstag von Gertrude Degenhardt

Die unbändige Lust an der Übertreibung

Peter Michel

In der letzten Woche durfte die Künstlerin Gertrude Degenhardt ihren 80. Geburtstag feiern. Viele, zumindest unsere älteren Leserinnen und Leser, kennen ihre künstlerischen Arbeiten. Wir gratulieren herzlich und wünschen ihr alles Gute. In dem informativen und schön gestalteten Doppelband „Künstler in der Zeitenwende“ von Peter Michel stellt er Gertrude Degenhardt vor, wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundlich erteilte Genehmigung, einen Auszug aus diesem Text hier abdrucken zu können.

Sie (Gertrude und ihr Mann Martin) besuchten mich am 1. Februar 1976 in der Redaktion der Zeitschrift „Bildende Kunst“. In diesem Jahr ging es um die Vorbereitung der fünften Folge der INTERGRAFIK, die für die Zeit vom 30. September bis 5.Dezember 1976 im Eingangsfoyer des Museums für Deutsche Geschichte (Berlin Hauptstadt) geplant war. Die Arbeiten von Gertrude Degenhardt hingen dann auch gemeinsam mit Werken von 467 Künstlern aus 55 Ländern in dieser weltoffenen Grafikschau.

Gertrude war damals sechsunddreißig Jahre alt. An unser Gespräch erinnere ich mich gern. Es war offen und freundschaftlich, vielleicht auch deshalb, weil bereits im September 1975 ein Heft der „Bildenden Kunst“ über progressive Künstler in der BRD erschienen war, das wir mit Hilfe der Münchener Künstlergruppe „tendenzen“ erarbeitet hatten. Beide Degenhardts hielten auch später immer wieder die Verbindung zu uns aufrecht, überreichten uns Publikationen oder schickten uns Postkarten mit Gertrudes Arbeiten. Unsere Sympathie füreinander hat auch nach dem Ende der DDR nicht nachgelassen.

Sie wurde am 1. Oktober 1940 in New York als Kind deutscher Eltern geboren. Als sie zwei Jahre alt war, kehrte ihre Familie nach Deutschland zurück. In Berlin war ihre Kindheit durch die Naziherrschaft, durch Bombenangriffe und die schwere Nachkriegszeit geprägt. 1956 zog die Familie nach Mainz, wo Gertrude die Schule abschloss und bis 1959 an der Staatlichen Werkkunstschule für Gebrauchsgrafik studierte. Während ihrer anschließenden Tätigkeit für Werbeagenturen in Frankfurt/M. und Düsseldorf lernte sie Franz Josef Degenhardt, seinen Bruder Martin und deren Freundeskreis kennen, zu dem auch die Liedermacher Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und die Zwillinge Hein und Oss Kröher gehörten. Diese Begegnungen sollten wichtig für ihr weiteres Schaffen werden. 1960 entstanden ihre ersten Buchillustrationen, vor allem für Kinderbücher. In der Mitte der Sechzigerjahre wurde sie freischaffend. Zu Pfingsten 1964 nahm sie am ersten Chanson- und Folkfestival auf der Burg Waldeck im Hunsrück teil, und im selben Jahr heiratete sie Martin Degenhardt. Danach entstanden Illustrationen zu Liedern und Chansons, vor allem für Plattencover zu Songs ihres Schwagers Franz Josef Degenhardt. Auch in den folgenden Jahren schuf sie Zeichnungen und Grafiken für Mappenwerke. Für ihre Arbeiten zu François Villons „Das Große Testament“ erhielt sie 1970 den Jahrespreis „Schönstes Buch“ der Stiftung Buchkunst. Schon 1968 war sie mit dem Preis der Grafik-Biennale in Krakau ausgezeichnet worden.

Ihre ersten Totentanzzeichnungen entstanden schon in den Sechzigerjahren. Ihr Hauptwerk zu diesem Stoff ist die „Vagabondage ad mortem“ von 1995. Auf einer Postkarte schickte sie uns die Darstellung eines Zuges von Militärs, die mit spindeldürren Beinen, vollgefressen, mit blasiert vorquellenden Gesichtern unter ihren Helmen dem Tod hinterher marschieren; dieser trägt den Dreispitz Napoleons; über allem weht eine Fahne mit der Weltkarte: „ … und morgen die ganze Welt“. Auf einer Farbradierung von vier Platten mit dem Titel „So soll es bleiben“ sieht man den Totenschädel Hitlers; er steckt – gekennzeichnet durch den typischen Scheitelhaarschnitt und eine „Rotzbremse“ – auf einem toten Ast, der mit einem zerfetzten braunen Tuch umhängt ist und als Vogelscheuche dient.

Gertrude Degenhardt hat zahlreiche Texte von O‘Flaherty, Bertolt Brecht, von ihrem Schwager Franz Josef Degenhardt und anderen Autoren auf eindringliche Weise illustriert. Ihre künstlerische Handschrift ist unverwechselbar. Sie verfremdet die Dargestellten mit skurrilen Mitteln; dennoch bleiben sie erkennbar. Ihre liebenswerten Gestalten aus der Liedermacherszene oder aus Irland sind oft handfeste Trinker, Vagabunden und Spieler; sie sind ernst, heiter, kauzig oder nobel, nüchtern oder betrunken, asketisch oder erotisch und immer individuell und originell. Es ist ein Vergnügen, solche Blätter zu betrachten. 2012, ein Jahr nach dem Tod von Franz Josef Degenhardt, waren viele dieser Arbeiten in einer Ausstellung zu sehen, die während des größten deutschen Folk-Festivals in Rudolstadt mit großer Resonanz gezeigt wurde.

Immer wieder hat Gertrude Degenhardt Sammlungen von Zeichnungen, Radierungen, Lithografien, auch Gouachen und Temperamalereien herausgegeben. Ein Genuss ist der Blick in ihre Sammlung von Pinselzeichnungen „Vagabondage en Rouge“, in der Musikerinnen lustvoll auf dem Akkordeon, der Geige oder anderen Instrumenten spielen und zugleich ihren Missmut, ihren Zorn über leeres Friedensgerede angesichts voller Waffenarsenale, über politische Dummheit, über korruptes Handeln und andere Segnungen der gegenwärtigen Gesellschaft in die Welt hinaustrommeln, -fiedeln und -tanzen. Sie tun das aufmüpfig, manchmal schamlos, in zirzensischen Verrenkungen, leidenschaftlich, ohne Rücksicht auf irgendwelche Etikette. All diese in dominierendem Rot hingestrichenen Figuren sind Zeichen für das Selbstbewusstsein einer starken Künstlerin, mit dem sie anderen ein Beispiel gibt.

Ihr Mann Martin Degenhardt, der ihr geholfen hatte, wo er konnte, starb schon im Jahr 2002. Bis heute blieb er in Gertrudes Werk das am meisten wiederkehrende Bildmotiv.

Peter Michel
„Künstler in der Zeitenwende“
2 Bände, Verlag Wiljo Heinen, 2018, 75,- Euro

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"Die unbändige Lust an der Übertreibung", UZ vom 9. Oktober 2020



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