Nur drastische Erhöhung der Steuern für Reiche kann Umverteilungspolitik berichtigen

Ein Tollhaus

Die UZ sprach mit Prof. em. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Wirtschaftswissenschaftler und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, zurzeit Gastprofessor an der Universität Siegen

UZ: Von der herrschenden Vulgärökonomie (um einen Ausdruck von Marx im dritten Band des Kapital aufzugreifen) wird vorgeschlagen, die gegenwärtigen Probleme vor allem durch Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Lohnkürzungen und Sonntagsarbeit zu beantworten. Welche Ergebnisse hätte eine solche Rezeptur?

330302 Portraet Bontrup - Ein Tollhaus - Steuern - Wirtschaft & Soziales
Heinz-J. Bontrup (Foto:Thomas Range)

Heinz-J. Bontrup: Marx würde dazu sagen, eine solche Rezeptur ist absolute und keine relative Mehrwertproduktion in einem hochindustrialisierten Land wie Deutschland. Das ist widersprüchlich und zudem ist die Vulgär­ökonomie hochgradig einseitig kapitalorientiert ausgerichtet. Arbeitszeitverlängerungen und Lohnkürzungen sind zweifach kontraproduktiv. Bei vorliegender Massenarbeitslosigkeit (etwa 3,5 Millionen Menschen in Deutschland haben keine Arbeit) die Arbeitszeit zu verlängern ist ein Fall für das Tollhaus und hat mit Ökonomie nicht zu tun. Und bei rund acht Millionen abhängig Beschäftigten, dass ist jeder Fünfte, die weniger als 11 Euro brutto in der Stunde erhalten, ist das schon wieder ein Fall fürs Tollhaus. Ich bin es als Wirtschaftswissenschaftler mehr als leid, solche „Tollhaus-Ökonomie“ überhaupt noch zu kommentieren. Ich weiß aber, dass diese „Tollhaus-Ökonomie“ leider im ökonomisch nicht gebildeten Volk immer wieder verfängt.

UZ: Wie ist aus deiner Sicht das Wahlprogramm der CDU/CSU hinsichtlich der ökonomischen Perspektiven nach den Wahlen, die ja wahrscheinlich eine Regierung unter ihrer Führung bringen wird, zu bewerten?

Heinz-J. Bontrup: Wahlprogramme sind, wie bei allen Parteien, Makulatur. Nach der Wahl kann sich keiner mehr an gemachte Wahlversprechen erinnern. Die Ausrede ist dann in der Regel, der Koalitionspartner hätte die Forderungen des Wahlprogramms nicht mitgemacht. Die ökonomischen Intentionen und Versprechungen der CDU/CSU sind weiter neoliberal, markt- und kapitalzentriert, ausgerichtet. Da ist nichts Positives zu erwarten, weder in der Fiskal- noch in der Steuerpolitik. Man muss mir mal erklären, wie man bei einer Schuldenbremse, besser wäre der Ausdruck Kreditbremse, die gigantischen Herausforderungen einer dringend notwendigen sozial-ökologischen Transformation in einem kapitalistischen Ordnungssystem bewältigen will. Das ist die Quadratur des Kreises! Man muss, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, nicht einmal Ökonomie studiert haben. Eigentlich reicht da der gesunde Menschenverstand. Aber selbst das ist heute so ein Problem, mit dem gesunden Menschenverstand, wo sich jeder und jede seine/ihre Meinung bildet, was völlig in Ordnung ist. Problematisch wird es aber, wenn diese Meinung für allgemeingültig erklärt wird. Und man kann dabei unendlich viel labern und streiten, wenn man kein wissenschaftlich fundiertes Wissen hat.

UZ: Siehst du Alternativen und Hoffnungen bei anderen Parteien – etwa SPD oder den „Grünen“?

Heinz-J. Bontrup: Solange diese beiden Parteien nicht endlich begreifen, dass ihre Wirtschaftspolitik sauber linkskeynesianisch auszurichten ist, kann man beide Parteien nicht ernst nehmen. In einer Koalition mit der CDU/CSU werden sie selbst ihre nur mangelhaften Wahlprogramme nicht einmal im Ansatz umsetzen können. Zynisch könnte man jetzt sagen, dass macht dann ja auch nichts. Hoffnung auf einen echten wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel sehe ich weder bei der SPD noch bei den Grünen.

UZ: Kannst du das einmal konkretisieren?

Heinz-J. Bontrup: Natürlich. Links-keynesianisch bedeutet konkret nicht nur ein wenig antizyklische Konjunkturpolitik, sondern eine massive Intervention des Staates in pervertierte Marktergebnisse. Das gilt sowohl für immer mehr Konzentration und Zentralisation des Kapitals und einen damit inhärenten vielfältigen Machtmissbrauch in der Wirtschaft als auch gegenüber dem Staat, der demokratisch gewählten Politik. Und pervertierte Marktergebnisse müssen durch eine dezidierte Umverteilungspolitik von den Reichen zu den Armen berichtigt werden. Dazu gehören drastische Einkommens- und Vermögensteuer- sowie Erbschaftsteuererhöhungen für Reiche. Linkskeynesianisch heißt auch, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Arbeitslosigkeit spielt übrigens in den Wahlprogrammen von CDU/CSU, SPD und den „Grünen“ überhaupt keine Rolle mehr, als hätten wir längst Vollbeschäftigung. Das ist schon wieder ein Fall fürs politische „Tollhaus“. Und linkskeynesianisch heißt heute auf jeden Fall auch, die Natur endlich in die ökonomischen Gleichungen und Kreisläufe aufzunehmen. Das wird, meint man es ernst, zu heftigen gesellschaftlichen Veränderungen führen, die insbesondere von den Reichen zu schultern sind. Die hoch konzentrierten Vermögensbestände sind hier ein Stichwort. Es nur „sozialverträglich“ zu machen reicht nicht.

UZ: Wieder etwas mehr ins Gespräch gekommen ist – vielleicht getrieben von den völlig undemokratischen Praktiken der aktuell reichsten Kapitalisten der Welt – die Forderung nach mehr Demokratie im Betrieb. Siehst du da Licht am Horizont?

Heinz-J. Bontrup: Nein. Eine sicher notwendige und lange überfällige Wirtschaftsdemokratie ist nicht in Sicht. Wir leben in einer nur halben Demokratie. Der Staat ist zwar demokratisch durch eine indirekte parlamentarische Demokratie verfasst. Der wirtschaftliche Unterbau wird aber nur einseitig vom Kapital beherrscht. Trotz unterschiedlicher betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmungsgesetze in Deutschland haben die abhängig Beschäftigten in den Betrieben und Unternehmen nichts zu sagen. Sie unterliegen dem Direktionsrecht des Kapitals und ökonomisch dem „Investitionsmonopol des Kapitals“ (Erich Preiser). Außerdem sind Menschen im Kapitalismus, die über keine Produktionsmittel verfügen, abhängig von der Nachfrage auf Arbeitsmärkten durch Kapitalisten. Und sie werden nur dann nachgefragt, wenn sie dem Kapitalisten eine Mehrwertproduktion versprechen. Liegt diese bei einmal nachgefragten Beschäftigen nicht mehr vor, werden sie entlassen. Also: es besteht eine totale Abhängigkeit der arbeitenden Menschen. Davon gibt es zurzeit rund 41 Millionen in Deutschland. Und diese lässt das Kapital für sich arbeiten bzw. Mehrwert schaffen.

UZ: Und was wäre die Alternative?

Heinz-J. Bontrup: Die abhängig Beschäftigten erhalten neben ihrem Lohn einen Großteil des von ihnen produzierten und realisierten Mehrwerts. Das wäre übrigens der Anfang einer demokratisierten Wirtschaft.

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"Ein Tollhaus", UZ vom 20. August 2021



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