Die soziale Frage und der Widerstand gegen Kriegstreiberei gehören zusammen. Proteste am Antikriegstag sind notwendig – gerade für Gewerkschafter

Frieden fordern, um zu leben

„Hier sitzen die, die immer hier sitzen.“ Wer kennt sie nicht, diese augenzwinkernde Botschaft, mit der man in manchen Wartezimmern von Hausarztpraxen begrüßt wird? Ähnlich verhält es sich auch bei Kundgebungen anlässlich des Antikriegstages, zu dem der DGB seit 1957 immer am 1. September aufruft. Häufig trifft man hier die Veteranen der Friedensbewegung, die schon in den 1980er Jahren gegen NATO-Doppelbeschluss und die ungezählten Kriege der USA und ihrer Verbündeten auf die Straße gegangen sind. Die Kollegen aus dem Stahlwerk, denen aufgrund der „Sachzwänge der Transformation“ Jobverlust droht, die Erzieherinnen und Erzieher, die Alten- und Krankenpflegerinnen und -pfleger, die seit Jahren vergeblich auf die Aufwertung der sozialen Berufe warten, oder die Supermarktverkäuferinnen und -verkäufer, die während der Pandemie mit dem buchstäblichen „Applaus vom Balkon“ abgespeist wurden, sucht man bei den Friedenskundgebungen meist vergebens.

Kein Wunder, denn auf den ersten Blick erschließen sich die Auswirkungen von Aufrüstung und Krieg auf die eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass Sozialabbau hier und der Stellvertreterkrieg in der Ukraine zwei Seiten einer Medaille sind.

Der DGB hat das in seinem diesjährigen Aufruf „Die Welt braucht Frieden!“ auf den Punkt gebracht: „Jeder Euro, der zusätzlich für Aufrüstung ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle. Neue Waffensysteme dürfen nicht mit der Schließung von Krankenhäusern oder dem Verzicht auf Zukunftsinvestitionen bezahlt werden. Die jüngste Häufung weltweiter Extremwetterereignisse führt uns drastisch vor Augen, dass die Bekämpfung des Klimawandels keinen Aufschub duldet. Der dafür erforderliche Umbau unserer Wirtschaft und seine sozial gerechte Gestaltung werden nur gelingen, wenn dafür ausreichend öffentliche Mittel bereitstehen.“

Deshalb fordert der DGB die Bundesregierung auf, „von einer – wie es die NATO fordert – weiteren Aufstockung des Rüstungsetats auf zwei Prozent des BIP oder sogar mehr abzusehen und sich mit ihren EU-Partner*innen und im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft für neue nukleare Rüstungskontrollabkommen und eine Eindämmung von Rüstungsexporten stark zu machen“.

Die sozialen Folgen von Aufrüstung und Krieg sind schon jetzt zu beobachten. Die Schere zwischen Arm und Reich ist so weit auseinandergegangen wie noch nie. In Folge von Wirtschaftskrieg und Sanktionen erreichte die Inflation mit 10,5 Prozent im vergangenen Herbst ein Rekordniveau. Die Folgen sind Wohlstandsverluste bis weit hinein ins Facharbeitermilieu.

Gleichzeitig haben nicht nur Rheinmetall und andere Rüstungsschmieden sich an der „Zeitenwende“ eine goldene Nase verdient. Die hundert größten Unternehmen in der BRD konnten ihre Gewinne um 22 Prozent auf 145 Milliarden Euro steigern und die Dividendenausschüttung der DAX-Konzerne erreichte mit 55 Milliarden ein Rekordniveau.

Und auch die Zukunft verheißt nichts Gutes. Der Haushaltsentwurf aus dem Hause von Finanzminister Christian Lindner (FDP) sieht für das kommende Jahr massive Kürzungen im Sozialen bei gleichzeitiger Erhöhung der Rüstungsausgaben vor. Dies sind jedoch nur Peanuts gegenüber dem, was uns ab 2028 erwartet. Bis dahin werden die 100 Milliarden Euro aus dem „Sondervermögen Bundeswehr“ vollständig ausgegeben sein. Anschließend müssen gemäß dem 2-Prozent-Ziel dann pro Jahr gut 20 Milliarden Euro zusätzlich aus dem regulären Bundeshaushalt in den Rüstungsetat gepumpt werden. Ab spätestens 2031 steht zusätzlich die Tilgung des 100-Milliarden-Euro-Kredits auf der Tagesordnung.

Dies sind gute Gründe – nicht nur am 1. September –, auf die Straße zu gehen. Ein lautes Nein zu Aufrüstung und Krieg wäre nicht nur eine deutliche Botschaft an Kabinett und Kapital, sondern auch ein Zeichen in die eigene Organisation. Es ist kein Geheimnis, dass es inzwischen auch in den Gewerkschaften Kräfte gibt, die bestrebt sind, die geltenden Beschlüsse und die in der Satzung verankerten friedenspolitischen Positionen aufzuweichen. Der Leitantrag zum anstehenden ver.di-Bundeskongress ist hier nur die Spitze des Eisbergs.

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"Frieden fordern, um zu leben", UZ vom 25. August 2023



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