Bundesweite Razzien gegen „Hass und Hetze“. Gerichte rätseln, was von ihnen erwartet wird

Gesinnungskorrektur

Am 25. Juni, Punkt 6 Uhr: energisches Klingeln und Klopfen an der Haustür, Kripo in Sollstärke, acht Mann hoch. Ach ja, Mittwoch vergangener Woche war wieder Bundeseinschüchterungstag, der zwölfte seit 2013. Etwa 1.000 Beamte, 180 Einzelmaßnahmen, 65 Wohnungen, durchkämmt auf der Suche nach Beweismaterial für Verstöße gegen die Nummern 1 bis 3 auf der Hitliste politischer Verfolgung: Volksverhetzung (Paragraf 130 Strafgesetzbuch (StGB)), Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (Paragraf 86a StGB) und die Billigung von Straftaten (Paragraf 140 StGB).

Kriminaltaktisch machte der BKA-koordinierte Aufgalopp der Verfolger von „Hass und Hetze“ wenig Sinn, da es weder um Banden noch Netzwerke ging. Die Ausbeute war lächerlich, so meldete die Berliner Polizei, 55 Einsatzkräfte hätten immerhin ein „internetfähiges Endgerät“ beschlagnahmen können. Den Strafverfolgern und ihrer medialen Begleitung ging es eher um die schlichte Botschaft: „Schön brav sein, sonst stehen wir demnächst auch in deinem Hausflur“ – oder, in den Worten der BKA-Pressestelle, darum, ein deutliches Zeichen gegen „die Verbreitung von extremistischem Gedankengut zu setzen und um deutlich zu machen, dass Täter jederzeit mit einer konsequenten Strafverfolgung zu rechnen haben“.

Das setzt voraus, dass auch die Gerichte das konsequent in Strafen oder Verbote umsetzen, was ihnen durch die eifrige politische Polizei angeliefert wird. Die Justiz indes ist durch den unter Ex-Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begonnenen und unter ihrem Nachfolger Alexander Dobrindt (CSU) fortgesetzten Kurs des Ausbaus der Strafbarkeit und des Rückschnitts von Freiheitsrechten unter Entscheidungsstress gesetzt. Den mit Strafsachen befassten Amts- und Landgerichten und den für das Versammlungsrecht zuständigen Verwaltungsgerichten bereitet die Auslegung ständig neuer aus der Politik entlehnter Propagandafiguren wie Hass und Hetze, Delegitimation des Staates und die „deutsche Staatsräson“ Kopfzerbrechen. Juristisch sind sie Muster ohne Wert, als Begriffe schlüpfrig und ungenau. Versuche, sie in Gesetze zu gießen, sind unter Faeser nicht vorangekommen, tauchen nur in den Arbeitshypothesen des Verfassungsschutzes auf, und dennoch besteht die Forderung der Regierenden, diese breitflächig einzusetzen.

Traditionell mögen Richter keine Generalklauseln, nicht unbedingt wegen ihres rechtsstaatlichen Ethos, sondern weil die Auslegung Arbeit macht. Im Studium haben sie gelernt, dass man auf der Suche nach dem praktischen Sinn eines Begriffs auf historische Umstände, den Wortlaut, die systematische Stellung und, wenn sonst nichts mehr hilft, auf den vermeintlichen Zweck abstellt. Bei schon vom Wortlaut her unklaren Gesetzen führt dies zu semantischen Experimenten, die je nach Gusto des gerade zuständigen Richters für den Außenstehenden zufällig erscheinen.

In der marxistischen Theorie des Rechts ist dieses Phänomen des niedergehenden Kapitalismus treffend beschrieben. Wo vom einstmals antifeudalen Status des Rechtsstaats nichts mehr übrig ist, herrschen zusehends Willkür und Beliebigkeit. So siegen auch mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni in Sachen der rechten „Compact“-Postille weder Meinungsfreiheit noch Pressefreiheit. Der von Faeser ausgeklügelte Umweg, über das Vereinsrecht ein Presseorgan zu verbieten, hätte verfassungsrechtlich die rote Karte verdient. Stattdessen lässt das höchste deutsche Verwaltungsrecht diese Frage offen und schafft den neuen Grundsatz: Wenn Reiseberichte, Kreuzworträtsel, Homestorys und Lifestyle in prägendem Umfang vorhanden sind, ist im Rest des Heftes auch mal „Delegitimierendes“ erlaubt. Ein merkwürdiges Verständnis von Pressefreiheit.

Weniger Glück als „Compact“ hatte eine Berlinerin, die sich spontan entschied, die Kriegsverbrechen im Gaza anzuprangern. Mit zwei selbstgemalten Plakaten zog sie in Sichtweite des Bundestags. Auf dem einen Plakat stand: „Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?“ Um ihren Hals das zweite Plakat: „NEIN zu der Ermordung von derzeit 8.500 Zivilisten in Gaza“. Das Amtsgericht Tiergarten hielt das für Volksverhetzung: 1.500 Euro Geldstrafe. Die Angeklagte habe, „die Art, das Ausmaß und die Folgen der Unterdrückung, der Gewalt und der massenhaft industriellen Ermordung“ der NS-Opfer „verharmlost“. Das, was sie anprangerte, nennt der Regierungschef Drecksarbeit, die „für uns“ von Israel erledigt wird. Wer die Regeln bestimmt, muss sich an Gesetz und Moral nicht halten.

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"Gesinnungskorrektur", UZ vom 4. Juli 2025



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