Für den Fall einer weiteren Eskalation des Ukraine-Krieges hält Berlin im Rahmen der NATO-„Speerspitze“ rund 8.000 Bundeswehrsoldaten in direkter Marschbereitschaft

Im Kriegsfall ganz vorn

Am 1. Januar 2023 hat die Bundeswehr für eine Dauer von zwölf Monaten das Kommando über die sogenannte NATO-Speerspitze (Very High Readiness Joint Task Force, VJTF), die „First Responder“ des Militärbündnisses, übernommen. Die Landkomponente der Truppenstruktur besteht aus einem „einsatzbereiten und autark einsatzfähigen militärischen Großverband“ in Form einer „verstärkte(n) multinationale(n) Kampftruppenbrigade“. Insgesamt stehen für die VJTF Land 2023 nach NATO-Angaben 11.500 Soldaten „bereit, um innerhalb weniger Tage aufzumarschieren“ – rund 8.000 davon deutsche Militärs. Im Kriegsfall könnte die NATO diese Brigade noch um zwei weitere ergänzen: die „Speerspitze“ des vergangenen Jahres und die des kommenden, die jeweils auch in erhöhter Bereitschaft bereitstehen. Im Februar 2022 hatte die NATO nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erstmals die VJTF in Richtung Südosten verlegt – nach Rumänien. Zu diesem Zeitpunkt stand die Truppe unter französischem Kommando.

Für die „Speerspitze“ 2023 stellt Berlin der NATO eine Vielzahl von Bundeswehreinheiten aus den Organisationsbereichen Heer, Cyber- und Informationsraum, Streitkräftebasis, Zentraler Sanitätsdienst, Luftwaffe und Marine zur Verfügung. Den Kern bildet die Panzergrenadierbrigade 37, die als Leitverband fungiert und ein Drittel der Truppe bildet. Die Soldaten der Einheit werden laut Angaben der Bundeswehr regelmäßig zu Auslandseinsätzen herangezogen; sie waren unter anderem für Besatzungsaufgaben in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo im Einsatz. 2015 war die Truppe Teil der ersten, deutsch geführten VJTF; 2020 war sie im Rahmen der Enhanced Forward Presence in Litauen stationiert. Ihr Kommandeur, Brigadegeneral Alexander Krone, wird für dieses Jahr zum Befehlsgeber der Landkomponente der NATO-Eingreiftruppe. Beteiligt sind auch das Panzerbataillon 393, das Panzerpionierbataillon 701, das Artillerielehrbataillon 345, das Versorgungsbataillon 131 sowie die Transporthubschrauberregimenter 30 und 36. Das Hauptquartier für die VJTF-Landkomponente stellt das I. Deutsch-Niederländische Corps. Zum ersten Mal führt Deutschland im Rahmen der VJTF zudem die Spezialeinheiten der NATO. Zu deren Aufgabenprofil gehören verdeckte Operationen an Parlament und Öffentlichkeit vorbei. Im Rahmen der VJTF 2023 operieren nicht zuletzt auch mehrere deutsche Kriegsschiffe, etwa die Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“, die mit 210 Soldaten für die nächsten sechs Monate das Flaggschiff der VJTF-Marinekräfte sein wird.

Eklatante Pannen des Schützenpanzers Puma, der eigentlich für die VJTF 2023 vorgesehen war, hatten im Vorfeld der Übernahme der NATO-Speerspitze 2023 Debatten und scharfe Kritik an der Ausrüstung der Bundeswehr ausgelöst und dazu geführt, dass der Puma durch den erheblich älteren Schützenpanzer Marder ersetzt werden musste. Ein Bundeswehrgeneral gibt sich nun trotz der „Gurkentruppen-Debatte“ zufrieden: Es sei noch Luft nach oben, aber die Ausstattung sei „inzwischen wirklich gut“. Die deutschen VJTF-Einheiten hätten „fast alles an Material“, was sie brauchten. Zur selben Einschätzung war die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, bereits nach einem Truppenbesuch im Sommer 2021 gekommen: Bei der Ausrüstung der Soldaten, aber auch bei „Großgerät“ und Digitalisierung, „geht es voran“, erklärte sie; besonders „erfreulich“ seien die Fortschritte bei der Einführung des Battle-Management-Systems, das ein „wesentliche(r) Baustein für einen einsatzbereiten, digital vernetzten multinationalen Gefechtsverband“ und ein Schlüsselprojekt bei der Digitalisierung des Krieges sei.

Auch die Kampf-, Transport- und Evakuationshubschrauber sind nach Angaben der Bundeswehr einsatzbereit. Zu ihnen zählt der Kampfhubschrauber Tiger, der – wie ein Experte konstatiert, „durchaus“ im Unterschied zu „den Einsatzgrundsätzen anderer Staaten“ – dazu gedacht ist, „im Gefecht am tiefsten in den Raum des Gegners einzudringen“. Die Aviation Task Force der VJTF sei voll darauf ausgerichtet, „kriegstauglich“ zu sein, heißt es. Das Flaggschiff der maritimen Komponente der NATO-„Speerspitze“ gehört der Brandenburg-Klasse an, die nicht zuletzt für die U-Boot-Jagd konzipiert ist – eine Schlüsselfähigkeit im Kontrollkampf um die transatlantischen Nachschubrouten über den Atlantik, die jederzeit über die Nord- und die Ostsee weitergeführt werden können, um Nachbarstaaten der Ukraine zu erreichen. Die Logistik-Einheiten geben an, für die VJTF 25.000 Ersatzteile im Wert von 10 Millionen Euro sowie 90.000 Liter Kraftstoff und 600 Tonnen Munition für Handwaffen, Panzer und Haubitzen bereitzuhalten.

Im Zuge ihres mehrjährigen Vorbereitungs- und Zertifizierungsprozesses haben die VJTF-Bundeswehreinheiten wiederholt und intensiv Szenarien geprobt, die in einem etwaigen Krieg gegen Russland zur Anwendung kommen könnten. Das Heer gibt an, im Mittelpunkt einer Manöverserie hätten unter anderem das „Angreifen von Truppenverbänden“ sowie „der Kampf bei Nacht“ gestanden. In Militärkreisen ist die Rede von „großen Marschkolonnen“. Das Manöver „Wettiner Heide 2022“, das ebenfalls der Vorbereitung auf die NATO-„Speerspitze“ diente, war nach Angaben der Bundeswehr die „größte Übung der Landstreitkräfte seit langer Zeit“: „Der Kern der Übung ist das Gefecht. Klassisch stehen sich zwei Parteien gegenüber.“ Unterstützt durch NATO-Verbündete trainierte die deutsche Armee Märsche mit Gewässerübergang sowie weitreichendes „Steilfeuer“ der Artillerie über 40 Kilometer – und „synchronisiert(e)“ dabei die Nationen der multinationalen VJTF „im scharfen Schuss“. Deutsche Soldaten trainierten, hieß es, „feindliche Kampfpanzer und andere gepanzerte Ziele (…) zu bekämpfen“. Bei der Zertifizierungsübung des I. Deutsch-Niederländischen Corps wurde der NATO-Bündnisfall nach Artikel 5 (Beistandspflicht) geprobt; der Schwerpunkt der Übung lag unter anderem auf „der Befähigung zu hochintensiven Kampfhandlungen“: „Immer mit der Annahme, einem ähnlich starken Gegner gegenüberzustehen.“

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"Im Kriegsfall ganz vorn", UZ vom 3. Februar 2023



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