Wie Thomas de Maizière sich Kriminalität und die „Leitkultur“ zurechtbiegt

In einem sicheren Land

Von Herbert Becker

Voller Stolz und mit dem dramatischen Timbre in der Stimme stellte Bundesinnenminister Lothar de Maizière in Berlin wie alljährlich neuen Band „Kriminalitätsstatistik“ vor. Neben den üblichen Sätzen wie „die Statistik zeigt, dass Deutschland nach wie vor zu einem der sichersten Länder weltweit gehört. Dafür gilt allen Kollegen, egal ob bei den Polizeien von Bund und Ländern oder dem Verfassungsschutz unser aller Dank“ war ihm natürlich wichtig darauf hinzuweisen: „Dennoch stehen die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern vor großen Herausforderungen. Neben der Gewalt- und Drogenkriminalität sowie Verstößen gegen das Waffengesetz ist es vor allem die gewachsene Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus.“

Eigentlich leben „wir“ also in einem „sicheren“ Land, aber genau so eigentlich haben „wir“ die Lage, viele und enorme Probleme mit Gewalt und Kriminalität zu haben. Wie kommt der Minister damit klar? Nun, die Beruhigungspille zwar vorneweg, dann aber ganz großes Theater in Szene setzen, damit die von ihm forcierten höheren Etats für die Sicherheitsbehörden auch der Bevölkerung einsichtig werden. Im Originalton de Maizière: „Wir gehen mit aller gebotenen Härte des Rechtsstaates gegen Personen vor, die unsere Rechtsordnung ablehnen. Eine Entspannung bei den Zahlen ist nicht zu erwarten. Auf die anstehenden Ereignisse wie das G20-Treffen in Hamburg, die Wahlkampfveranstaltungen sind die Sicherheitsbehörden vorbereitet und werden – wenn nötig – hart durchgreifen. Deutschland ist und bleibt ein wehrhafter Rechtsstaat.“ So macht man nicht nur Stimmung, sondern suggeriert, mit noch mehr und noch martialischerer Aufrüstung bekomme er die Lage in den Griff.

Erst ein paar Tage später liefert der Bundesinnenmister in der „Bild-Zeitung“ den tieferen Grund für seine ordnungspolitisch strikte Haltung. Es ist die deutsche Kultur – genauer: die deutsche Leitkultur. Da wird in zehn Thesen Grundlegendes gesagt. So unter These 1: „Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.“ In These 7 (Zivilkultur) stellt de Maizière kategorisch fest, Gewalt sei weder bei Demonstrationen noch an anderer Stelle gesellschaftlich akzeptiert. Schön dagegen seine Feststellung zur „Kulturnation Deutschland“ (These 5): „Wir sind Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland.“ Leider taucht weder bei der Zivil- noch bei der sonstigen Kultur noch irgendwo sonst das Prinzip Ordnung auf. Sollte dieser Innenminister den leitkulturellen Wert „Ordnung“ vergessen haben? Niemals.

Vielleicht eher das Recht. Auffällig an dem hohen Zahlengebirge der Kriminalstatistik Deutschlands ist: Es ist immer von Tatverdächtigen die Rede. Damit wird suggeriert, diese seien deshalb auch bereits die Schuldigen und vor Gerichten entsprechend abgeurteilt worden. Dies ist nicht so, denn nur etwa ein Drittel der von der Polizei Verdächtigten landet tatsächlich vor Gericht und wird verurteilt. Die schnelle Suche nach Personen, die man der dann beruhigten Öffentlichkeit und der Medienmaschine präsentieren kann, ist überwiegend nicht belastbar. Den alten Grundsatz von der „Unschuldsvermutung“ lässt de Maizière anscheinend für sein Ministerium nicht gelten.

Das nächste Auffällige ist: Alle Delikte, die nicht zum Aufgabenbereich der Polizei gehören, das sind besonders alle Finanz- und Steuerdelikte, werden nicht erfasst. Darüber gibt es keine Zahlen, geschweige denn, dass die Größenordnungen in Euro oder Dollar den gewaltigen Unterschied deutlich machen würden gegenüber Taschendiebstählen oder Wohnungseinbrüchen. Alles, was an Verstößen gegen Bilanzierung, Kartell- und Wettbewerbsrecht, Schwarzgeldkonten, obskuren Finanztransaktionen oder den bis vor kurzem so beliebten „Cum-ex-Geschäften“ festgestellt wird, fällt wohl unter eine geschützte Form von Kriminalität und ist im Bericht keine Zeile wert.

Erfreulich ist, dass Tötungsdelikte zu fast 100 Prozent aufgeklärt werden, den gewaltigen Anstrengungen des Staates bei „Sozialleistungsbetrug“ – der schlägt ihm wohl besonders auf den Magen – sei ebenfalls zu verdanken, dass fast 100 Prozent aufgeklärt werden.

Die Zahl der Tatverdächtigen liegt mit rund 2 Millionen Tatverdächtigen geringfügig über der des Vorjahres. Die Mehrheit der Tatverdächtigen ist männlich (75,5 Prozent). Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen entspricht einem Anteil von 8,6 Prozent an allen Tatverdächtigen.

Ob und wenn ja warum die Situation vieler Menschen mit „falschen“ Pässen, ohne Aussicht auf ordentliche Arbeit mit ordentlichem Lohn, ohne Aussicht auf bezahlbaren Wohnraum, dafür mit der ständigen Aussicht auf „Race-Profiling“ oder Ausweisung, dazu führt, sich auf unlautere Weise die Teilhabe am bürgerlichen Leben zu organisieren, dies wird natürlich in der Sichtweise des Ministers völlig ausgeblendet.

Zu Höchstform läuft de Maizière bei seinem Lieblingsthema auf, den von ihm so genannten „politisch motivierten Straftaten“. Während sich die Zahl der Straftaten in den „Phänomenbereichen“ (ein schönes Wort) „links“ und „rechts“ insgesamt ungefähr auf dem Vorjahresniveau bewegt hat (rechts: 23 555; links: 9 389), wies die Entwicklung der Gewalttaten deutliche Unterschiede auf: Rechtsmotivierte Gewalttaten sind um 14,3 Prozent angestiegen, bei von ihm verorteten linksmotivierten ging die Zahl der Gewalttaten um 24,2 Prozent zurück. Zu beachten ist: Jeder von den Polizeikräften vermuteter, auch friedlicher Protest und Widerstand, z.B. bei Sitzblockaden, wird angezeigt, Anzeigen von Protestierenden gegen polizeiliche Übergriffe werden prompt mit Gegenanzeigen der Polizeiführungen und Staatsanwaltschaften beantwortet.

Etwa 45 Prozent der für den Bereich der politisch motivierten Ausländerkriminalität festgestellten Delikte (1 518) stehen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der Türkei und der PKK. Dort, wo sich der deutsche Staat zum Handlanger der türkischen Politik macht, wird im großen Stil Anzeige erhoben, die Missachtung bürgerlicher Rechte, wie Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht ist de Maizière recht und billig.

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"In einem sicheren Land", UZ vom 5. Mai 2017



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