Irre Urteile, löchrige Pressefreiheit, neue Gesetze: G20 als Vorwand für einen Generalangriff gegen links

Willkommen im Rechtsstaat

Von Olaf Matthes

Über eine Stunde vor Demobeginn und weiter als zwei Kilometer vom Auftakt entfernt gerät Stanislaw B. in eine Polizeikontrolle. Die Polizisten, die ihn kontrollieren, finden in B‘s Rucksack sieben Böller, eine Taucherbrille, eine leere Dose Pfefferspray und ein paar Glasmurmeln. Der Richter wird später unterstellen, der 24-jährige Pole habe zur Großdemo gegen den G20-Gipfel am 8. Juli in Hamburg gehen wollen. Aus den Murmeln wird in seinem Urteil die Munition für eine Zwille, aus den Böllern Waffen zum Angriff auf Polizisten, aus den Sachen im Rucksack ein Verstoß gegen das Versammlungsrecht, ohne dass B. überhaupt an einer Versammlung teilgenommen hat. Die Beamten nehmen B. fest. In der vergangenen Woche verurteilt ihn der Hamburger Richter zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Vorher hat er seit der Demo, zu der er vielleicht gehen wollte, in Untersuchungshaft gesessen – sieben Wochen lang.

Ein „rechtspolitischer Skandal“ sei diese U-Haft, sagt B‘s Verteidiger, der Berufung einlegen will. Weitere 28 Beschuldigte sitzen mit teilweise ähnlich willkürlichen Begründungen noch immer in Hamburger Untersuchungsgefängnissen. Im ersten G20-Verfahren ist der 21-jährige Niederländer Peike S. zu 31 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Er hatte, urteilte der Richter, zwei Flaschen auf einen Polizisten geworfen, der daraufhin einen kurzen Schmerz gespürt habe und Peike S. anschließend nur unter „großer Kraftanstrengung“ festnehmen konnte, weil dieser eine „Embryonalhaltung“ eingenommen hatte. Gefährliche Körperverletzung, schwerer Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – von einer „absurd hohen Strafe“ spricht der justizpolitische Sprecher der Hamburger Linksfraktion, von einem „Hammer-Urteil“ die Hamburger Morgenpost. Vor und während der G20-Proteste hatten „staatliche Stellen systematisch Grundrechte verletzt“, schreibt der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein in seiner Bilanz des Wochenendes und von „Gewaltexzessen mancher Polizeieinheiten“. Vor Gericht und in den großen Medien spielt das keine Rolle. „G20 – Welcome to Hell“, war die Losung der autonomen Demo, an der Peike S. teilgenommen hatte. Willkommen im Rechtsstaat, antworten Polizisten, Politiker, Richter und Mainstream-Journalisten.

Was Innenminister de Maizière unter Rechtsstaat versteht, zeigte er, als er am 25. August die linksradikale Onlineplattform linksunten.indymedia verbieten ließ. Er konstruierte einen Verein, der die Website betreibe, um diesen verbieten zu können, er erzählte von Waffen, die bei diesen Betreibern gefunden worden seien. Wem die gefundenen Schlagstöcke gehören, ist nicht klar, ob die Betreiber als Verein eingestuft werden können, auch nicht. Mit dem Verbot habe de Maizière sich als „wahrer Demokratiefeind“ geoutet, sagte der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele. Selbst Reporter ohne Grenzen – eine Organisation, die besonders mit Hetzpropaganda gegen das sozialistische Kuba auffällt – hält das Verbot für „rechtsstaatlich fragwürdig“: „Pressefreiheit gilt auch für schwer erträgliche Veröffentlichungen.“

Die Regierung lässt ihren linken Gegnern die „rechtsstaatlichen“ Ins­trumente zeigen. Als sie versuchte, linke Journalisten vom G20-Gipfel fernzuhalten, zeigte sie vor allem, auf welche Weise sie ihre Instrumente bastelt: Mit ihren Datenbanken hat das BKA einen riesigen digitalen Denunzianten aufgebaut. Insgesamt 32 Journalisten hatte das Bundespresseamt nachträglich die Akkreditierung entzogen, weil das BKA sie als Sicherheitsrisiko eingestuft hatte. Darunter eine Redakteurin des „Neuen Deutschland“, der Fotograf Björn Kietzmann, der auch in dieser Zeitung Bilder veröffentlicht hat, und andere kritische Journalisten. Nun muss das BKA einem Betroffenen nach dem anderen mitteilen, warum er oder sie eine Gefahr sein soll – und in einem nach dem anderen Fall zeigt sich, dass die Spitzeldatei veraltete, falsch zugeordnete oder ganz falsche Informationen ausspuckt. Die Vorsitzende der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche, Julia Stein, sieht „Abgründe im Umgang der Sicherheitsbehörden mit den Rechten von Journalisten – und ein erstaunliches Maß an Verachtung rechtsstaatlicher Prinzipien“. Schließlich lieferte die offensichtlich illegale Datensammlung des BKA die Grundlage, auf der das Bundespresseamt die Pressefreiheit der G20-Berichterstatter verletzte.

Aber dass die Polizeigewalt während des Gipfels gründlich dokumentiert ist und die Denunziantendatei in der Tagesschau vorgeführt wird, heißt nicht, dass der Generalangriff gegen links, zu dem die Auseinandersetzungen von Hamburg den Vorwand liefern sollen, vorbei wäre. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom vergangenen Wochenende behauptet: „In Deutschland finden Linksextreme immer ein warmes Plätzchen“, nun sei es an den Kommunen, gegen autonome Zentren vorzugehen. Und die Exzesse der Hamburger Richter wären überhaupt nicht möglich, wenn der Bundestag nicht erst Ende April die Gelegenheit dafür geschaffen hätte: Er beschloss, das Strafgesetz zu ändern, um Angriffe auf Vollstreckungsbeamte härter zu bestrafen. Nach dem Urteil gegen Peike S. teilte der Pressesprecher des Gerichts mit: „Der Vorsitzende hat in seiner Urteilsbegründung sehr deutlich gemacht, dass wir es hier mit Straftatbeständen zu tun haben, die im Laufe dieses Jahres geändert worden sind mit dem erklärten gesetzgeberischen Ziel, Angriffe wie die hier abgeurteilten auf Polizeibeamte schärfer zu bestrafen als es früher der Fall gewesen ist.“

Den Innenministern der Unionsparteien reicht das nicht. Am vergangenen Freitag veröffentlichten sie eine Erklärung, in der sie unter anderem fordern, die Straftat „Landfriedensbruch“ weiter zu fassen, damit „sich künftig nicht nur diejenigen strafbar machen, die (…) selbst Gewalt ausüben, sondern auch diejenigen, die sich bewusst einer gewalttätigen Menge anschließen und die Angreifer unterstützen, indem sie ihnen Schutz in der Menge bieten“. Schon jetzt ist „Landfriedensbruch“ ein schwammiger Paragraph, den Gerichte benutzen können, um Demonstranten zu verurteilen. Nach diesen Plänen können die Hamburger Urteile ein Anfang und kein Ausrutscher sein.

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"Willkommen im Rechtsstaat", UZ vom 8. September 2017



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