Rolf Jüngermann, Gelsenkirchen, reflektiert die jüngere chinesische Geschichte

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Rolf Jüngermann, Gelsenkirchen

So wie viele andere Entwicklungsländer stand China spätestens seit den 1960er Jahren vor dem Problem einer sich stark beschleunigenden Bevölkerungsentwicklung. Die Geburtenrate stieg, die Sterberate sank, die Wachstumsrate stieg im Ergebnis auf deutlich über 2 Prozent. Das wäre auf eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl alle 30 Jahre und damit auf unlösbare Probleme hinausgelaufen. Eine extrem schwierige und weitreichende Entscheidung stand an. Der dann gefasste Beschluss zum Übergang zur Ein-Kind-Politik von 1979 bis 2015, mit Ausnahme der ethnischen Minderheiten, führte in eine Zeit schmerzhafter, vor allem für viele Frauen und Mädchen, nur schwer erträglicher Eingriffe. Aber man hatte keine Wahl. Hätte man nicht gegengesteuert, hätte China heute weit über zwei Milliarden statt 1,4 Milliarden Einwohner mit all ihren berechtigten Ansprüchen auf Arbeitsplätze, Wohnraum und Versorgung. Die Mädchen allerdings, die mit dem Bewusstsein aufwachsen mussten, eigentlich nicht erwünscht zu sein, haben sich inzwischen auf chinesische Weise gerächt. Viele von ihnen bilden heute die (weibliche) „Turbogeneration“. Die besten Schüler und Studenten waren junge Mädchen aus jenen Jahren, die mit eiserner Disziplin ihren Weg durch das anspruchsvolle chinesische Schul- und Prüfungssystem nahmen. Und so soll es heute etwa in Shanghai mehr selbstbewusste, erfolgreiche emanzipierte Frauen geben als irgendwo sonst auf der Welt, heißt es.

Gegen Ende der Pandemie betrug die Gesamtzahl der Corona-Toten in Festlandchina 5.226 (Stand: 10. November 2022), davon allein 4.512 in nur einer einzigen der 22 Provinzen, in der Provinz Hubei mit der Hauptstadt Wuhan und 495 Toten in Shanghai. In den restlichen 20 Provinzen Chinas waren es insgesamt 219 Corona-Tote. Zur gleichen Zeit verzeichneten die USA mehr als eine Million Corona-Ttote, bei nur einem Viertel der Einwohnerzahl Chinas. Das zeigt in aller Deutlichkeit: Die konsequente „dynamische Null-Covid-Strategie“ bis hin zu Werksschließungen, wie sie in Festlandchina zur Anwendung kam, war eine phantastische Erfolgsgeschichte, in der das Überleben möglichst vieler Menschen zum zentralen Entscheidungskriterium gemacht wurde, wie es sich für einen Staat gehört, der sozialistischen Ansprüchen genügen will.

Wäre man in China mit der gleichen Verantwortungslosigkeit gegenüber Menschenleben vorgegangen wie in den USA, hätte die Zahl der Corona-Toten zu diesem Zeitpunkt rein rechnerisch an die vier Millionen betragen anstelle von real 5.226.

Vor einer Reihe von Jahren stellten die Verantwortlichen fest, dass China im Verlauf der ökonomisch überaus erfolgreichen Nutzung der von marktwirtschaftlichen Strukturen ausgehenden Dynamik nicht genug getan hatte, um die entstandene Kluft bei der Einkommensverteilung zu verringern. Zugleich konnte man von der geschichtlichen Erfahrung nicht abrücken, dass sich auf der Basis von allgemeiner und individueller Armut, Bescheidenheit und Gleichmacherei kein Sozialismus aufbauen lässt – jedenfalls keiner, der in den internationalen Auseinandersetzungen der heutigen Zeit auf Dauer standhalten kann. Mehr noch als zuvor setzte man darauf, dass harte Arbeit aller der zentrale und grundlegende Weg zum gemeinsamen Wohlstand ist, sieht in der kontinuierlichen Anstrengung, in dem mühsamen Kampf aller die entscheidende Grundlage für die Steigerung des gemeinsamen Wohlstands aller, auch der noch nicht wohlhabenden Teile der Bevölkerung. Die „Beraubung der Reichen“ ist nicht mehr zentrales Mittel der Wirtschafts- und Sozialpolitik, was nicht heißt dass man nicht zunehmend durchaus auch zu Mitteln der Umverteilung wie progressive Vermögensteuern und Grundsteuern greift. Wörtlich: „Wir können es uns nicht leisten, in die Falle des Wohlfahrtsstaates zu laufen oder die Faulen zu füttern.“ Der Spruch von Bertolt Brecht „Und der Arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“, der oft stillschweigend als eine Art wirtschaftspolitischer Lehrsatz missverstanden wird, scheint also in China immer weniger respektiert zu werden. Im Ergebnis hat China auf diesem Wege in einem großen Schritt die absolute Armut und die regionalen Probleme der Armut beseitigt, ohne zu dem Mittel der regelmäßigen Almosenverteilung zu greifen. Millionen arme Menschen wurden aus der Armut befreit, in erster Linie durch Investitionen in die Infrastruktur und Schaffung von Arbeitsplätzen, was ein Wunder der Armutsbekämpfung darstellt.

Die rasante Entwicklung der Volksrepublik China zu einer der dynamischsten Regionen der Erde ist in ihren Ergebnissen und in ihren Details eine höchst erstaunliche Geschichte. Für einen abendländischen Menschen unverständlich und daher oft beängstigend ist das komplett andere Demokratieverständnis und die Rolle der Kommunistischen Partei, der führenden Kraft in dieser Erfolgsgeschichte. Sie hat über alle unvermeidlichen Dispute und Linienkämpfe hinweg, durch Siege und Niederlagen hindurch, selbst nach der Phase ihrer weitgehenden Zerstörung in der Kulturrevolution letztendlich ihre Einheit gewahrt, hat sich nicht gespalten, nicht in organisierte Fraktionen aufgelöst, ist nicht in Sozialdemokratismus versunken. „Jüngsten (2020) Forschungsergebnissen der US-amerikanischen Harvard-Universität zufolge beträgt die Zufriedenheitsrate der chinesischen Bevölkerung mit der KP Chinas über 90 Prozent.“
kurzelinks.de/tvm6

China-Konferenz ausgebucht
An diesem Sonntag trifft sich die DKP zu ihrer China-Konferenz in Frankfurt am Main. Die 100 verfügbaren Plätze sind inzwischen vergeben und das Treffen damit ausgebucht.
Einleiten in die Konferenz wird Conny Renkl mit einem Referat zur Entwicklung der Volksrepublik China. Nach der anschließenden Diskussion wird in Arbeitsgruppen diskutiert. AG 1 ist überschrieben „Zum Einfluss der Partei und des Staates auf die politische Ökonomie“. Es diskutieren Wolfram Elsner und Lucas Zeise. „Zur Ausübung der politischen Macht der Arbeiterklasse durch Partei und Gewerkschaften“ diskutieren in AG 2 Beat Schneider und Olaf Matthes. Die dritte AG ist besetzt mit Uwe Behrens und Jan Meier, die „Zur Seidenstraßen-Initiative als Form friedlicher Koexistenz“ sprechen.
Das Abschlussplenum wird sich mit der Frage „Chancen und Probleme einer multipolaren Weltordnung“ beschäftigen. Als Referent zu diesem Thema ist Jörg Kronauer eingeladen.
Die UZ wird in der Ausgabe vom 8. Dezember ausführlich über die China-Konferenz der DKP berichten.

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"Nachdenkliche Rückblenden", UZ vom 24. November 2023



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