So nahe an Russland und Belarus wie noch nie fand am 11. und 12. Juli – nach UZ-Redaktionsschluss –in Vilnius ein NATO-Gipfel statt. Die litauische Hauptstadt liegt etwa 200 Kilometer von der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad und knapp 40 Kilometer von der zu Belarus entfernt.
Westliche Medien hatten sich in den Tagen davor vor allem mit ukrainischen und türkischen Erpressungsversuchen beschäftigt. Präsident Wladimir Selenski hatte vorab eine formelle Einladung der NATO zur vollen Mitgliedschaft der Ukraine zur Bedingung für seine Anreise gemacht. Sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan blockierte zusammen mit Ungarn den NATO-Beitritt Schwedens. Bereits am Montag löste sich der angebliche Widerstand aber in Luft auf: Kiew erhält keine NATO-Mitgliedschaft, dafür US-Streumunition und US-Garantien wie Israel. Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius brachten ein neues „sehr substantielles“ Waffenpaket für die Ukraine im Wert von knapp 700 Millionen Euro mit – inklusive Nachschub an Marder- und Leopard-Panzern. Erdogans Verknüpfung von neuen Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft mit dem schwedischen NATO-Beitritt war in weniger als zehn Stunden erledigt.
Das Schmierentheater lenkte von dem ab, was auf der Tagesordnung in Vilnius stand: Neben dem Ukraine-Krieg, der für die NATO wegen der ausbleibenden militärischen Erfolge Kiews unbefriedigend verläuft, war das die Konkretisierung des neuen strategischen Konzepts, das beim vergangenen NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid beschlossen worden war. Das Auswärtige Amt kündigte dazu an, der Gipfel werde „drei neue regionale Verteidigungspläne verabschieden.“
Am Montagabend meldeten westliche Nachrichtenagenturen Vollzug. Die 31 NATO-Staaten hätten sich „auf neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet verständigt.“ Die entsprechenden Dokumente im Umfang von mehr als 4.000 Seiten seien in einem schriftlichen Verfahren angenommen worden. Die NATO kehrt damit auch formal zum Kalten Krieg zurück, in dem es zuletzt Pläne dieser Art gegeben hatte. Pistorius hatte dazu kürzlich in Brüssel erklärt, der Bundesrepublik werde eine Doppelaufgabe zugewiesen. Zum einen werde sie wie zu Zeiten des Kalten Krieges aufgrund der geografischen Lage die logistische Drehscheibe für die Verlegung von Truppenverbänden und Material sein. Zum anderen werde man Verantwortung für die Ostflanke übernehmen. Wichtig sei, dass nun die baltischen Staaten wie einst die BRD darauf vertrauen könnten, „dass die Alliierten ihre Freiheit und Sicherheit im Ernstfall verteidigten“.
Künftig sollen statt der bisherigen 40.000 NATO-Soldaten 300.000 in hoher Bereitschaft gehalten werden. Die Bundesregierung hatte bereits in Madrid erklärt, eine Division – rund 15.000 Soldaten – dafür zu stellen. Darüber hinaus wurden etwa 65 Flugzeuge und 20 Schiffe sowie Unterstützungskräfte und weitere Verbände mit besonderen Aufgaben in Aussicht gestellt.
Geografisch wurde das NATO-Gebiet für die neuen Pläne in drei Regionen eingeteilt: Von den USA über den Atlantik bis nach Island, Großbritannien und Norwegen; Europa nördlich der Alpen mit Deutschland, Polen, Mittelosteuropa und den baltischen Staaten; Mittelmeerraum und Balkan bis hin in die Schwarzmeer-Region. Vorgesehen sind mehr schwere Kräfte, mehr Flugabwehrsysteme sowie mehr weitreichende Artillerie- und Raketensysteme.