NSU-2.0-Prozess: Gericht bleibt bei Einzeltäterthese

Nazi-Netzwerk egal

Im Prozess um die Drohschreiben des „NSU 2.0“ ist der Angeklagte Alexander M. am 17. November vom Frankfurter Landgericht zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Ihm wurde von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegt, in Eigenregie zwischen August 2018 und März 2021 insgesamt 116 E-Mails und Faxe an Einzelpersonen und Institutionen verfasst und versandt zu haben. Die Schreiben strotzten von Beleidigungen meist rassistischen Inhalts, enthielten aber auch Mord- und Bombendrohungen. Auf allen Schreiben fand sich neben Absenderangaben wie „SS-Obersturmbannführer“ oder „SEK Frankfurt“ (gemeint war das Spezialeinsatzkommando der Polizei, das später im Juni 2021 aufgelöst wurde, nachdem gegen 18 Beamte Verfahren wegen der Verbreitung rechtsextremer Inhalte eingeleitet worden waren) stets das Kürzel „NSU 2.0“ – in Anspielung auf die Terrorbande „Nationalsozialistischer Untergrund“.

Die Drohbriefserie begann kurze Zeit nachdem Beate Zschäpe und weitere Angeklagte des NSU-Komplexes vom Münchener Oberlandesgericht am 11. Juli 2018 verurteilt worden waren. Alexander M. ist bei der Justiz kein Unbekannter, zwischen 1994 und 2014 war der jetzt 54-Jährige bereits mehrfach, auch wegen Gewaltdelikten, zu Haftstrafen verurteilt worden. Bemerkenswert am Frankfurter Verfahren ist weniger das Strafmaß, auch nicht die Zahl der am Schluss abgeurteilten über 80 Taten und schon gar nicht das Prozessverhalten des Angeklagten, wie beispielsweise am 24. März, dem achten Verhandlungstag, als seine Beleidigungen gegenüber Zeugen („Du Mistmade“, „Scheißfotze“, „Stück Scheiße“) zu tumultartigen Szenen im Sitzungssaal führten.

Bemerkenswert ist das, was nicht ermittelt worden ist. Sorgsam hatte die Staatsanwaltschaft schon beim Verlesen der Anklageschrift am ersten Prozesstag im Februar darauf geachtet, die Einzeltätertheorie nicht in Frage zu stellen, weder durch die Verbindungen des Angeklagten nach Berlin, wo er auf ungeklärte Weise an die Gefangenenpersonalnummer des 2020 zu vier Jahren Haft verurteilten Neonazis André M. gelangt war, die „eigentlich“ nur der Berliner Justizverwaltung bekannt sein konnte. In Drohschreiben hatte Alexander M. auch Wissen über eine Serie von Brandanschlägen in Berlin-Neukölln offenbart, was seine Verstrickung mit der dortigen Tätergruppe hätte nahelegen müssen.

Die zentrale Frage des gesamten Verfahrens, wie der Angeklagte die bis in Verwandtschaftsverhältnisse hinein gehenden Daten seiner Opfer ausspähen konnte, blieb auch nach 30-tägiger Verhandlung offen. Alexander M. will sich die sensiblen Daten aus dem „Darknet“ besorgt haben. Die Staatsanwaltschaft und auch das Urteil gehen davon aus, M. habe sich als „Kollege“ ausgegeben und die Daten von den Diensthabenden des 1. Reviers in Frankfurt erhalten. Merkwürdig, dass aber keinem der Beamten dieses Reviers so etwas aufgefallen ist, Notizen im Wachbuch finden sich ebenfalls nicht. In der EDV des Reviers allerdings findet sich eine ganze Menge, so zum Beispiel Belege für eine umfangreiche Datenabfrage zwischen 14.09 Uhr und 14.15 Uhr am 2. August 2018 (17 Suchvorgänge auf drei Polizeidatenbanken), 90 Minuten später ging beim Opfer Seda Basay-Yildiz das Fax ein: „Als Vergeltung für 10.000 Euro Zwangsgeld schlachten wir deine Tochter.“ Basay-Yildiz war Anwältin der Familie des ersten NSU-Mordopfers, Enver Simsek. Die Polizeibeamtin Miriam D., die zum Zeitpunkt der Datenabfrage Dienst hatte und deren Log-in-Daten ihren Datenbankzugang an diesem Tag belegen, kann sich an nichts mehr erinnern. Auch ihre fünf Dienstgruppenkollegen haben jede Erinnerung an Datenabfragen verloren.

Das am 11. September 2018 beschlagnahmte Handy von Miriam D. weiß mehr: Sie und fünf ihrer Kollegen unterhielten eine Chatgruppe namens „Itiotentreff“. Tagtäglich wechselten sie Bildchen mit Nazisymbolen, Hitler-Konterfeis und rassistischen Witzen. Der Polizeibeamte Johannes S. fiel in den mittlerweile ausgewerteten Chats mit der häufigen Formulierung „Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals“ auf. Genau diese Passage findet sich vielfach in den Drohbriefen. Als am 2. August 2018 die Daten des Opfers Basay-Yildiz ausgespäht wurden, lief Johannes S. irgendwo in der Frankfurter Innenstadt Streife. Einzelheiten konnten nicht mehr ermittelt werden. Die Verkündung des Strafmaßes durch die Vorsitzende Richterin Corinna Distler löste beim Angeklagten demonstratives Gähnen aus. Ein paar Minuten später sagte sie, es sei nicht Aufgabe dieses Verfahrens, den Frankfurter Polizeiskandal aufzuklären. Sie formuliert damit die zentrale Botschaft des „NSU 2.0“-Prozesses.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Nazi-Netzwerk egal", UZ vom 25. November 2022



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