Die einen könnens, die andern machens: MF Doom, Joe Biden und Co.

Nicht allzu heiter

Es brauchte eine Erinnerung an den Jahrestag der Befreiung Leningrads am 27. Januar 1944, um noch einmal Dimitri Schostakowitschs 7. Sinfonie von 1941 zu hören. Und siehe da: Auch dem letzten (mir) fiel auf, woher Peter Fox‘ „Alles neu“ (2008) seine Streicher hat, die so viel Knieeinsatz beim Tanzen einklagen: aus dem vierten Satz von Schostakowitschs „Leningrader“, der mit dem Stimmungshinweis „Allegro non troppo“ („Nicht allzu heiter“) versehen ist.

Das Beispiel zeigt zweierlei: menschliche Erkenntnisträgheit (meinerseits) und das Phänomen, dass Musik anlassbezogen entsteht und für diesen Anlass auch funktioniert – aber eben auch nicht nur für diesen, sondern für andere Anlässe anders funktionieren kann. Zu der Einsicht kommt man, wenn man nicht die interpretatorische Steilwand erklimmen, sondern den Kampf des Neuen (des sowjetischen Sozialismus) gegen das imperialistische Alte (die NS-faschistische Invasion) damit in Einklang bringen will, wie sich Peter Fox in seiner Clubhymne zum radikalen Lebenswandel verhält: „Hey, wenn’s dir nicht gefällt, mach neu/Die Welt aus Staub bedeckt, doch ich will sehn, wo’s hingeht/Steig auf den Berg aus Dreck, weil oben frischer Wind weht.“ Fox‘ Diebstahl ist kein Zitat, mehr eine Neuanwendung von vorhandenem Rohstoff.

Was in der Forschung ein glücklicher Zufall ist, ist in der Musik (vor allem der wortlosen instrumentalen) ein Prinzip: Ein Beat bedeutet etwas anderes, wenn man ihn anderswo einbaut, verzerrt, umsteuert. Sind durch Zufall bei der Entwicklung von Bluthochdruck-Medikamenten Viagra und Haarwuchsmittel entdeckt worden und war die nach ihrem Erfinder Louis Braille benannte Schrift für Sehbehinderte anfangs dafür gedacht, dass Napoleons Truppen nachts und stumm untereinander kommunizieren konnten, gibt in der Pop-Musik die bewusste Wiederverwendung den Ton an.

Ein Beispiel dafür ist die Berliner Band I.A.O. (InAndOut). Deren Dance-Arrangements der späten Achtziger und frühen Neunziger kreuzen Ambient, Postpunk und Electro-Jazz wie den des „Miami-Vice“-Titelmusikkomponisten Jan Hammer. Die Geschichte der Band teilt sie selber auf in Phase I bis III. Dabei vollzieht die Band eine Entwicklung, die sie konsequent zur elektronischen Musik treibt. In Phase III werden die Saiteninstrumente ad acta gelegt und Synthesizer-Loops und Computer der Marke Atari (deren Einsatz damals noch revolutionär war) zu den Hauptinstrumenten. Gründungsmitglied Achim Kohlberger hat hierin sein musikalisches Steckenpferd gefunden. In Summe entsteht dabei eine sehr eigene Form des Techno, der den Soundtrack bildet zu der Geschichte einer Stadt, die nach der Konterrevolution auch ihre Subkultur neu ordnen muss. Für die DJ-Equipment-Experten von HVV ist klar: „Phase III“ dürfte „gerne in jedem Wohnzimmer statt Tangerine Dream oder Jean-Michel Jarre stehen“.

Während I.A.O. jüngst vom australischen Label Left Ear Records neu aufgelegt wurden, ist vergangenen Oktober einer der Meister der musikalischen Collage im Alter von nur 49 Jahren von uns gegangen: der New Yorker Hip-Hop-DJ Daniel Dumile, unter dessen vielen Pseudonymen wohl MF Doom das bekannteste ist.
Überraschend war die Silvester publik gewordene Nachricht von seinem Tod zudem, weil noch im Dezember zwei Tracks von ihm zusammen mit der kanadischen Instrumental-Band BadBadNotGood erschienen waren.
Wie vielen DJs, blieb auch MF Doom viel der Rampenlichtwärme verweigert, die er verdient hätte. Kaum ein anderer seines Fachs beherrschte wie er die Kunst, Neues durch nichts Neues zu erschaffen: Soul-Arrangements waren bei ihm gleichrangiges Material wie Soundspuren aus alten Zeichentrickserien. An Alben wie „Take Me to Your Leader“, 2003 unter seinem Alter Ego King Geedorah veröffentlicht, kommt man nie mehr vorbei, wenn man dem Genre eine Chronik schreiben will.

Selbst in der plattenkratzenden Zunft blieb MF Doom ein Meister im Hintergrund. DJ Danger Mouse (bürgerlich: Brian Burton), mit dem er um 2005 herum das Duo Danger Doom stellte, kam später mit Gnarls Barkley nicht zu Unrecht zu besten Radiosendeplätzen und produziert mittlerweile alles, was es zwischen Jay-Z und U2 so gibt. Doom beziehungsweise Dumile in Person durfte stattdessen seit 2010 nicht einmal mehr sein Land, die USA, betreten und musste in seine Geburtsstadt London übersiedeln. Joe Biden, Vize-Präsident der Regierung, die ihm damals die Einreise verweigerte, packte ihn nichtsdestotrotz auf die Playlist seiner Amtseinführung als US-Präsident. Die wohl billigste Begnadigung, seit es Kulturpolitik gibt, erfährt seitdem nicht viel positive Resonanz unter jenen, denen Dooms Musik mehr ist als ein Schiebestein im Beliebtheitsgeschacher.

In Sachen mangelnder Authentizität legte Vize Kamala Harris den Grundstein, indem sie Tupac Shakur (1971 bis 1996) letzten Herbst bei einer Veranstaltung der Bürgerrechtsorganisation NAACP den leicht umstößlichen Ehrentitel „größter lebender Rapper“ verlieh. Das Team Biden/Harris, das rhetorisch gerne alles Mögliche sampelt, was beim Wahlvolk ziehen soll, von Umweltschutzverheißungen über Antirassismus bis zum Versprechen, wieder „die Welt anzuführen“, zeigt, dass das, was in der Musik Sinnstiftung, in der Politik billigster Populismus ist.

InAndOut: Phase III
Selected Recordings 1988-1995, 
Left Ear Records, 2 Vinyl-LPs, 
29,99 Euro

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Nicht allzu heiter", UZ vom 12. Februar 2021



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