Mit dem Gedenken an den Überfall auf die Sowjetunion tat sich das offizielle Berlin 2021 schwer. Eine Ausnahme war der Bundespräsident

„Nicht von vornherein verbrecherisch“

Am 11. März wandte sich der parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion „Die Linke“, Jan Korte, an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wegen einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni. Schäuble antwortete, nach seiner Überzeugung „sollten wir an der bisherigen parlamentarischen Übung einer ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges und des von ihm ausgegangenen Leids festhalten“. Dafür seien die Jahrestage von Kriegsbeginn und Kriegsende ausreichend. Der Krieg gegen die Sowjetunion und deren Vernichtung – kein besonders denkwürdiger Teil des Zweiten Weltkrieges, schon gar nicht dessen Zweck.

Die Linksfraktion hakte nach und formulierte am 30. März eine Kleine Anfrage unter dem Titel „Mögliches Gedenken der Bundesregierung an den 80. Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion“. Die Antwort von Ende April besagte im Wesentlichen: Nein, nichts geplant. Die Fragesteller hatten in ihren Vorbemerkungen daran erinnert, dass die Merkel-Regierung zum 75. Jahrestag erklärte hatte, nach ihrer Auffassung seien „militärische Handlungen der Wehrmacht“ im Rahmen „des unprovozierten Angriffskrieg(es) des ‚Dritten Reiches‘“ und „rasseideologischen Vernichtungskrieg(es)“ wie gegen die Sowjetunion (Antwort zu Frage 1 auf Bundestagsdrucksache 18/8532) „nicht grundsätzlich als verbrecherisch einzustufen“. Ähnliches war diesmal nicht zu hören, zurückgenommen wurde aber auch nichts.

Am 8. Mai setzte die Linksfraktion noch einmal nach und brachte den Antrag „80 Jahre deutscher Überfall auf die Sowjetunion – Für eine Politik der Entspannung gegenüber Russland und eine neue Ära der Abrüstung“ ein. Als am 9. Juni eine von den Fraktionen vereinbarte Debatte zum 80. Jahrestag im Bundestag stattfand, bekannten sich zwar die Redner aller Fraktionen zum „Nie wieder!“, ignorierten aber den „Linke“-Vorschlag oder behaupteten demagogisch, wie Außenminister Heiko Maas (SPD), „zu einem bewussten Umgang mit unserer Geschichte“ gehöre eine Reaktion auf die „politische Willkür“ von Minsk und Moskau. Deutsche Völkerrechtsbrüche? Kann es gar nicht geben.

Damit war die Sprachregelung gefunden, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel am 19. Juni in ihrem wöchentlichen Motto teilte: Kostenlose Scham für damals, aber Härte gegenüber Moskau heute. Am 21. Juni gestaltete sie ganz in diesem Sinn die Eröffnung des von Revanchisten erdachten Dokumentationszentrums „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der kolonialistische Ausrottungskrieg gegen die Sowjetunion ist da auch nur einer unter vielen.

Linksfraktion und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier waren so die einzigen offiziellen Instanzen der Bundespolitik, die anders mit dem Datum umgingen. Jene veranstaltete im Paul-Löbe-Haus des Bundestags eine würdige Gedenkfeier gemeinsam mit Duma-Abgeordneten und dem russischen Botschafter, Steinmeier besuchte am 14. Juni die Gedenkstätte Sandbostel in Niedersachsen und erinnerte an die mehr als drei Millionen sowjetischen Soldaten, die in deutscher Kriegsgefangenschaft umgebracht worden waren. Er hielt am 18. Juni im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst, dem früheren Kapitulationsmuseum, eine warnende Rede und legte am 22. Juni im Sowjetischen Ehrenmal Berlin-Schönholz einen Kranz nieder.

Unter den Verfassungsorganen war er die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die lautet: Keinen wirklichen Frieden mit Russland.

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"„Nicht von vornherein verbrecherisch“", UZ vom 2. Juli 2021



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