Wie die Exekutive die Legislative aushebelt

Parlamente als Statisten

Anne Will fragte am 19. April in ihrer Sendung: „Wie hart trifft uns die neue Normalität?“, nachdem in sämtlichen Stellungnahmen der vorangegangen Woche, sei es vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder oder von Wirtschaftsminister Peter Altmaier, deutlich gemacht wurde, dass die Zeit nach dem „Abflachen der Infektionskurve“ nicht etwa gleichbedeutend mit der Rückkehr zu „alten Zuständen“ sei – oder um es mit Finanzminister Olaf Scholz zu sagen: „Was wir jetzt brauchen, ist für lange Zeit eine neue Normalität.“

Was den Zeitfaktor dieser Phase betrifft, hütet sich die Regierung vor Festlegungen. Während das „Paul-Ehrlich-Institut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel“ davon spricht, das Ende der Einschränkungen hänge von dem „Durchimpfen“ der Bevölkerung ab, mit dem frühestens in einem Jahr zu rechnen sei, gehen andere Institute gar von 18 Monaten aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte am 20. April an, man müsse das Rückfallrisiko bedenken und daher generell die „Öffnungsdiskussionsorgien“ unterbinden. Die „neue Normalität“, in der die Grundrechte auf bis nahe Null reduziert sind, dürfte uns noch lange begleiten.

Beredtes Zeugnis, wie leichtfertig seitens der bürgerlichen Parteien mit den persönlichen Freiheitsrechten umgesprungen wird, liefert die Diskussion um die „Maskenpflicht“. Noch vor wenigen Wochen wurden Masken als ineffizient zur Senkung des Infektionsrisikos dargestellt: Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann hielt ihre flächendeckende Ausgabe am 1. April für eine „unverantwortliche Verschwendung“. Mittlerweile wird die Losung ausgegeben, das Tragen von Masken verhindere die Tröpfcheninfektion wie nichts anderes. Bayern führt die Tragepflicht ab kommenden Montag zwingend ein, nachdem Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern hierzu den Anstoß gegeben hatten. Diese Meinungsänderung ist leicht durchschaubar- sie ist darauf zurückzuführen, dass bis vor wenigen Tagen Schutzmasken wegen der dem Profit geschuldeten Verknappung von Rettungs- und Hilfsgütern in der Katastrophenmedizin schlichtweg nicht erhältlich waren. Am 18. April durfte die „Welt“ nun das Ende des Engpasses melden: „Masken werden in der Pandemie zur Goldgrube. Hersteller von Brautkleidern und Kaffeefiltern steigen in die Produktion ein.“

Das Fehlen von Schutzmasken war ein bestimmender Grund, das Zusammenkommen einer größeren Anzahl von Menschen, auch und gerade anlässlich von Demonstrationen, Kundgebungen und Versammlungen, zu untersagen und damit über Rechtsverordnungen in den Bundesländern und über das Bundesinfektionsschutzgesetz (IfSG) die Grundrechte ins Leere laufen zu lassen. Faktisch bestimmen die Gesundheitsminister in Bund und Ländern – das heißt, die Exekutive –, wie viel Grundgesetz noch sein darf. Bundestag und Länderparlamenten kommt allenfalls eine Statistenrolle zu. Der neue Verordnungsstaat braucht den parlamentarisch beschwerlichen Weg zu freiheitseinschränkenden Grundgesetzänderungen nicht mehr, er regiert einfach durch Dekret. Eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Praxis.

Verfassungsrechtler gleich welcher politischer Couleur laufen inzwischen gegen die unkontrollierbare Macht der Exekutive Sturm. Und der Ton wird rauer. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und CSU-Mitglied Professor Hans-Jürgen Papier machte es Anfang April deutlich: „Das Grundgesetz kennt eine Notstandsregelung – für den Verteidigungsfall, nicht für eine Pandemie. Aber selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet. Das muss in der jetzigen Notlage erst recht gelten.“ Der Datenschutzbeauftragte von Rheinland-Pfalz, Professor Dieter Kugelmann, hält die Aussage „Not kennt kein Gebot“ für freiheitsfeindlich – solche Sätze hätten in einer „rechtsstaatlichen Demokratie keinen Platz“. Sein Kollege Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg teilt diese Auffassung: Er attestiert Verfassungswidrigkeit, „wenn ein Ministerium per Notverordnung Gesetze des Bundestags ändern kann, ohne dass der Bundestag eine Möglichkeit hat, dies zu verhindern“. Das alles interessiert die Herrschenden nicht. Sie interessiert noch nicht einmal, was der eigene Wissenschaftliche Dienst des Bundestages am 2. April mit dem ihm eigenen vorsichtigen Duktus festgestellt hat, dass „die Ermächtigungen in Paragraf 5 Absatz 2 IfSG zum Erlass von Rechtsverordnungen wohl zumindest erheblich problematisch“ seien.

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"Parlamente als Statisten", UZ vom 24. April 2020



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